Keine Würdigung der Opfer

■ In der Präambel des Einigungsvertrages fehlt eine entscheidende Passage

GASTKOMMENTAR

Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrates der deutschen Juden, ist etwa 1,60 groß und etwas mehr als einen Zentner schwer. Er verbrachte einige Jahre in Auschwitz zu einer Zeit, in der es dort statt Karmeliterinnen deutsche Schäferhunde und ebenso deutsche SS-Leute gab. Dr. Helmut Kohl, zur Zeit Bundeskanzler, ist 1,98 groß, und sein Gewicht grenzt an 110 Kilogramm, wenn er nicht gerade von seiner Abspeckkur in Bad Hofgastein zurückkommt. Herrn Doktor Helmut Kohl hat es als Heranwachsendem in Oggersheim manchmal an manchen Lebensmitteln gefehlt.

Heinz Galinski hatte, was den Einigungsvertrag betrifft, nur einen Wunsch: daß die Ursachen der Teilung Deutschlands

-das Zusammenbrechen des Nazireiches - und eine Würdigung der Opfer in der Präambel dieses Textes Platz fänden. Um die ohnehin schon überlastete Schäuble-Krause -Verhandlungskommission nicht zu überfordern, hatte er sogar eine Formel erarbeitet, die über ihre rabulistische Form hinaus - in ihrem Inhalt überaus korrekt war: der Wille der Deutschen, in Einheit und Freiheit zu leben, verwirklicht sich „im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und besonders eingedenk der zwischen 1933 und 1945 begangenen beispiellosen Gewalttaten des Nationalsozialismus und in der Achtung vor dessen Opfern, in der Verantwortung für eine demokratische Entwicklung und den Schutz der Menschenrechte...“

Die Einfügung dieses Satzes in die Präambel hätte den gesamtdeutschen Steuerzahler nur das Papier und die Tinte gekostet, die man gebraucht hätte, um ihn zu drucken. Doch dem Kanzler fällt es schwer, Herrn Galinski in diesem Fall entgegenzukommen. Ungefähr 30.000 jüdische Wählerstimmen genügen nicht, um den Unmut der Ewiggestrigen auszugleichen.

Erstaunlicherweise haben fast alle deutschen Medien diese Kontroverse totgeschwiegen, während im Ausland über dieses Thema ausführlich berichtet wurde. Und nicht nur in Israel. Von den Parteien haben bis heute allein die Grünen darauf reagiert und angekündigt, sie werden einen Antrag in dieser Richtung dem Bundestag vorlegen. Gut, aber dramatisch unzulänglich. Es fällt mir natürlich schwer, und es verursacht bei mir ein gewisses Unbehagen, noch einmal als Friedens- und Freudenstörer der deutschen Einigung zu erscheinen. Aber die Deutschen müssen es begreifen: man gründet keine Nation auf den Steinen des Vergessens und des Verdrängens. Die moralischen Kosten einer solchen Haltung kann man natürlich nicht in Mark und Pfennig bewerten, aber eines ist sicher: den Preis des Mißtrauens zahlt man mit Zinsen und Zinseszinsen über Generationen hinaus.

Luc Rosenzweig

Der Autor war lange Jahre Journalist bei 'Liberation‘ und ist jetzt Korrespondent von 'Le Monde‘ in Bonn