Notorisch schlechtes Gedächtnis

■ Merkle-Prozeß in Stuttgart: reihenweise Erinnerungslücken / CDU-Bezirkschefs unter Tatverdacht

Aus Stuttgart Erwin Single

Seit nunmehr 14 Monaten erleben die Prozeßteilnehmer im Sitzungssaal 1 des Stuttgarter Landgerichts ein einzigartiges Schauspiel. „Auf der Suche nach der verlorenen Erinnerung“ müßte der jüngste Akt im Stuttgarter Spendenprozeß um den früheren Bosch-Chef Hans Merkle eigentlich heißen. Denn ehrwürdige Politiker und Amtsträger tragen auf der harten Zeugenbank reihenweise ihr notorisch schlechtes Gedächnis zur Schau. In der vergangenen Woche präsentierten nach Ministerpräsident Späth und dessen Amtsvorgänger Filbinger nun einige ministerablen CDU -Bezirksfürsten ihre Erinnerungslücken: Prof. Gerhard Zeitel, ehemaliger CDU-Chef von Nordbaden und späterer Wirtschaftsminister an der Saar, Landesminister a. D. Eduard Adorno, einst Vorsitzender in Südwürttemberg und Innenminister Dietmar Schlee, Adornos Nachfolger in der oberschwäbischen CDU-Hochburg. Alle drei gaben an, bei der verschlungenen Parteispendenpraxis an nichts Unrechtes gedacht zu haben. Zwar sei ihnen der eine oder andere Verband, über den die Spenden direkt oder indirekt in die Parteikassen flossen, sowie die für Steuerbefreiung geltende 25-Prozent-Höchstgrenze bekannt gewesen; daß diese Grenze jedoch permanent mißachtet wurde, wollen sie nicht einmal geahnt haben. Wie schon Späth und Filbinger wurden alle drei Zeugen vom Gericht nicht vereidigt - wegen Verdachts, sich an den Merkle zur Last gelegten Steuerdelikten beteiligt zu haben. In dem schärfer gewordenen Prozeßklima hielt es Richter Teichmann nicht einmal mehr für nötig, dem mit Unverständnis auf seine Nicht-Vereidigung reagierenden Ex -MdB Adorno dafür eine Erklärung abzugeben. Teichmann lediglich: Adorno habe doch zugegeben, um Spenden geworben zu haben.

Richter Teichmann und die genüßlich bohrenden Merkle -Verteidiger Wahle und Welp dürften die Glaubwürdigkeit der mächtigen CDU-Repräsentanten ohnehin in Zweifel ziehen. Auskünfte über Zweck und Details der CDU-Umwegfinanzierung über die als Geldwaschanlagen getarnten Verbände waren nicht zu erhalten, weil die dem Parteipräsidium angehörenden Bezirksvorständler nach eigenen Angaben mit Finanzierungsfragen nicht befaßt waren. Dafür sei der Parteikassier zuständig gewesen. Selbst einschlägige Präsidiumsprotokolle und unzweideutige Schriftwechsel, auf deren Verteiler die Zeugen zum Teil selbst standen, konnten ihrem Erinnerungsvermögen nicht nachhelfen. Stattdessen wurde naßforsch gekontert: „Das mag sein, deckt sich aber nicht mit meinem Erinnerungsvermögen“, gab Zeitel zu Protokoll. Adorno berief sich, immer wenn es heikel wurde, auf einen „Erinnerungsvorbehalt“. Und Schlee, für den Zeugenstand sichtlich gut präpariert, mußte auf einige Fragen kleinlaut einräumen, daraufhin die Unterlagen noch nicht geprüft zu haben.

Nachdem die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Merkle -Prozesses vor wenigen Wochen in den Wind schlug, scheint mit der von der Verteidigung beantragten Vernehmung der CDU -Bezirksfürsten Merkles Kalkül aufzugehen. Der um seine Rehabilitation bemühte Grandseigneur der deutschen Wirtschaft hatte zu Beginn des Strafverfahrens gedroht, er werde nicht allein vor Gericht zu sitzen haben. Seit geraumer Zeit gleicht das Verfahren einem Tribunal gegen die mutmaßlich politischen Mitwisser, Mittäter und Anstifter der dunklen „Kaskadenfinanzierung“. So sehr sich die fleißigen Spendensammler vor aller Öffentlichkeit auch herauszureden versuchen - überzeugend wirkt es jedenfalls nicht. Seit immer wieder neue beweislastige Unterlagen auftauchen, sind sie zudem arg vorsichtig und kleinlaut geworden.

Neue Gefahr droht den Unschuldsbeteuerungen der Spendenakquisiteure durch weiteres Belastungsmaterial, das die Staatsanwälte gegen den Zigarrenfabrikanten und früheren CDU-Schatzmeister Hubertus Neuhaus zusammengetragen haben. Neuhaus, gegen den als einzigen Politiker Anklage erhoben wurde, konnte im Merkle-Verfahren noch von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemachen. Ob der von den CDU-Präsidialen bereits als Sündenbock abgestempelte Drahtzieher der Spendenwäscherei tatsächlich vor Gericht gestellt wird, ist jedoch offen. Dem Fall Neuhaus droht im nächsten Herbst die Verjährung. Doch die zuständige Strafkammer fühlt sich überlastet und verlangt eine personelle Aufstockung; die Ankläger haben Zweifel, ob sich der Prozeßaufwand überhaupt lohne. Letztere haben mehrfach durchblicken lassen, daß nach Beendigung des Merkle -Prozesses die Sache Neuhaus mit einem Strafbefehl abgeschlossen werden könnte - falls keine neuen Erkenntnisse auftauchen.