Ein Stück wie keins

■ „Frauen setzen Zeichen“ - Musik von Frauen im Rahmen der Sommerwerkstatt

Was in die festgefahrenen Strukturen des Musikbetriebs nicht hineinpaßt, wird anderswo neu erfunden. Komponistinnen operieren an den Rändern des Bestehenden. Das Bekannte wird mit dem Unbekannten gemischt. Dieses Wochenende stellen im Rahmen der Sommerwerkstatt vier Frauen ihre grenzüberschreitende Musik vor.

Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Supermarkt zur Musikberieselung singt SHELLY HIRSCH. Sie verwertet alles, was sie hört und was in Sprache oder vom Menschen mit Stimme nachgeahmt und wiedergegeben werden kann. Ihre Musik ist zusammengesetzt aus Alltag und Raum. Die Komposition ist die Verknüpfung, ist das Additionszeichen der Sprache. Tierstimmen und Meerwasser, das sich am Strand bricht, Vögel und einbrechendes Eis, alle möglichen Sprachen und Dialekte, Musik, die von der Straße in die Mansarde dringt und umgekehrt, tropfendes Wasser und abgesägtes Holz, Walzerrhythmus und Kinderlieder und die gedrückten Stimmen der Geishas kommen in ihrer Musik genauso vor wie das Öffnen von Dosen und die Leidenschaft, mit der Italiener im 16. Jahrhundert sich beim Schreien aus der verständlichen Sprache herausbewegten. Um dem, was sie nicht sagt, die Bedeutung von Sprache zu geben, greift sie auf alle Möglichkeiten, die ihr noch bleiben, um sich auszudrücken, zurück. Sie schreit, sie flüstert, sie atmet ein und aus, sie gurrt, sie gluckst, sie schluckt, lacht und weint. Am besten ist sie, wenn die Zuschauerin oder der Zuschauer den Eindruck haben, sie sei außer Kontrolle, meint die New Yorker Szenezeitung 'Village Voice‘, auch wenn klar ist, daß jeder Augenblick geplant wurde. Shelly Hirsch gehört zu einer Reihe von Komponistinnen, die in ihrer Arbeit vorgegebene Strukturen minimalisieren. Andere versuchen, Geräuschmaterial aus allen angrenzenden Hörbereichen in ihre Musik einzubauen, wie MARIE GOYETTE (siehe auch das Interview).

Als Klanginstallateurin bezeichnet sich CHRISTINA KUBISCH. Ihre Tongebilde können einem Zwischenbereich von bildender Kunst und Musik zugerechnet werden. Dabei wird vom Zuhörer, der auch Zuschauer ist, verlangt, daß er sich in den Kunst und Klangraum hineinbegibt und darin bewegt. In einem bestimmten räumlichen Bereich werden Kabel verspannt, die mit Tönen gespeist werden. Je nachdem, wie und wo sich der Rezipient bewegt, kann er über drahtlose Kopfhörer eigene Klangkonstruktionen wahrnehmen.

In ihre Außenraumarbeiten bezieht Kubisch Erde, Steine und Bäume ein, die die Funktion von Bildträgern haben. Farbige Kabelnetze werden über sie gelegt oder um sie herum gespannt, und sie erscheinen daher wie die Quellen der Klänge, die aus den Kabeln kommen, wenn man sie durch magnetische Induktion mit dem Kopfhörer abhört. Bei ihren Innenarbeiten geht Kubisch auf die architektonischen Merkmale der jeweiligen Ausstellungsorte ein und versucht, deren Geschichte aufzuspüren, zu reflektieren und das im Mauerwerk Verborgene freizulegen. In ihren Installationen kommen das Akustische, das Elektronische, das Visuelle und das Natürliche zusammen. Doch nur, wer sich aktiv an diesem Raum-Ton-Werk beteiligt, kann es erfahren.

Die Schweizerin MA-LOU BANGENTER hat im Rundhof des Rathauses Wilmersdorf, das in der Zeit des Nationalsozialismus erbaut wurde, ein anderes Musikspektakel entworfen. Zwölf MusikerInnen aus Ost- und West-Berlin und vier Tänzerinnen werden ein zweistündiges Konzert mit Bewegung sowie Licht- und Rauminstallation unter dem Titel Rondo Potento geben. Der Titel spielt auf den Rundhof des Rathauses an, der aus 24 Arkadennischen besteht. Die Zahl 12 hat für Ma-Lou Bangenter besondere Bedeutung. Die Architektur, der Kreis also, gibt das Gerüst für die Musik, für Rondo und Zwölftonmusik. Der Kreis als Grundbaustein der Performance wird durchbrochen und aufgebrochen, er bekommt eine Richtung und eine Zeit. „Es finden Dualität, das Dreiecksprinzip, das Vierecksprinzip und andere Konstellationen in ihm statt“, beschreibt Ma-Lou Bangenter ihre Konzeption. Die Musik ist nicht vorgegeben. „In der Improvisation, ich nenne es auch Instant-Composing oder Jetzt-Musik, passiert die Vergänglichkeit, die typisch für Musik ist, am stärksten. Eine Improvisation entsteht, entwickelt sich oder ist plötzlich da und wird nie wieder genauso passieren. Improvisation ist eine Form von Kommunikation.“ Zeit wird zu einem bestimmenden Element von Musik. „Musik ist hörbare Zeit. Bewegung und Licht sind sichtbare Zeit. Es gibt in diesem Stück ja vier Tänzerinnen, obwohl ich lieber den Begriff Bewegerinnen benutze.“ Am geschichtsträchtigen Ort des Rathauses soll Rondo Potento durch Musik, Licht und Bewegung „einen anderen Raum, eine andere Energie herstellen“, stellt sich Ma-Lou Bangenter vor.

Trotz der unterschiedlichen Ansatzpunkte, die die verschiedenen Künstlerinnen bei der Herstellung ihrer Musik haben, gilt als gemeinsames Prinzip für alle vier Frauen, daß sie aus der Zusammensetzung von Alltags- und Raumerfahrung eine Musik herstellen, durch die der Alltag aus der Distanz reflektiert wird. Da Zeit kein Strukturierungsaspekt mehr ist, ist diese Musik offen für den Zeitaspekt der Monotonie. Das Ergebnis ist nicht Langeweile, sondern vielmehr das Gefühl, zwischen den einzelnen Musiken keine Trennungslinien mehr ziehen zu können, keine Zuordnungen mehr herstellen zu können. Ein Stück ist nicht mehr automatisch das einer bestimmten Komponistin. Es könnte auch das Stück einer anderen sein. Damit aber stellt diese Musik unseren Begriff von Individualität als Erkennbarkeit in Frage und ersetzt ihn mit Individualität als Austauschbarkeit und Überschreitung der Grenzen. Titel wie Ein anderer Raum von Shelly Hirsch oder Grenzgänge von Christina Kubisch bezeichnen solche Erfahrungen.

Waltraud Schwab

Marie Goyette: Stone Memorial. Freitag, 7.9., 16 Uhr, Fränkelufer Ecke Admiralbrücke, Berlin 36.

Ma-Lou Bangenter: Rondo Potento. Samstag, 8.9., 22 Uhr, Rundhof des Rathauses Wil- mersdorf, Fehrbelliner Platz 4, Berlin 31.

Shelly Hirsch: Another Room. Sonntag, 9.9., 20 Uhr, Kulturhaus Wabe im Ernst-Thälmann-Park, Dimitroffstraße 101, Berlin 1055.

Christina Kubisch: Grenzgänge . Eine Klanginstallation. Vom 8. bis 15.9. im Garten der HdK, Hardenbergstraße, Berlin 12.