Seelenweitende Welterklärungsbedürfnisse

■ Berliner Rundumfilmprojektionen im „Panorama“

In der Budapester Straße, der Weltstadt-Trash-Meile des modernen Berlins, muß der Besucher das Licht verlassen, um im „Panorama“ das ganze ( griech.: pan) Berlin zu sehen ( orama (Sicht)). Er tritt in einen zylindrischen Raum, in dem er sich stehend aufhält und unter Umständen an Geländern festhalten kann. Das Licht verlischt, und auf den ganzen Wandkreis wird ein Film projiziert, der einen zusammenhängenden Rundblick eröffnet.

Der Betrachter befindet sich in der Mitte des visuellen und akustischen Geschehens. Destination Berlin heißt der Film, und ein Lichtermeer, ein Sternenhimmel mit wummerndem Sphärengedröhn ist immer ein guter Anfang, seit die seelenweitenden Welterklärungsbedürfnisse auf die Natur(wissenschaft) übergegangen sind. Mal ein bißchen rumfliegen in dem transzendenzträchtigen Meer, und siehe, da ist schon die Erde in der Welt und - beam, beam - die (Welt-)Stadt Berlin. Natürlich, wir sind in Berlin, das wir uns von Berlinern erklären lassen, und also wird der mögliche Ernst der Weltsuppenfahrt nicht voll ausgeschöpft. Eine nicht recht erwachsen gewordene Stimme begrüßt und begleitet uns fürderhin, eine Stimme zwischen Kindersendung und „Hilfe, ich muß etwas sagen“.

Tief in Berlin eingetaucht, erheben wir uns mit dem Fahrstuhl des Funkturms in die Höhe; rundum fällt der Horizont ab, und im Zuschauerraum erheben sich die ersten zaghaften Rummelplatzschreie. Es folgt eine Avus-Fahrt, die mit einer mittelguten Miami-Vice-Unterlegung ganz gut kommt, und der Ku'damm wird von oben beflogen, was man sich wahrscheinlich bei den Hundert Arten, Liebe zu machen abgeguckt hat. Die neue Technik zeigt uns Berlin, und Berlin zeigt uns die neue Technik. Das Schloß, ebenfalls aus der Luft, und Klein-Venedig vom schwankenden Boot aus ziehen vorbei. Die pubertäre Begleitstimme erklärt uns dies, und das mit geliehenem Ernst. Kurze Sprüche zu kurzen Einstellungen, deren Reihung nicht legitimiert werden muß; kein Schmierstoff leistet die Übergänge außer dem Bedürfnis, noch was Lustiges zu zeigen, einen neuen Geschmack zu probieren oder einen anderen Effekt. Das ist schon in Ordnung, aber es scheint mir etwas nachlässig mit dem Wert der Bilder umgegangen zu sein. Die Unentschiedenheit der Filmerei und die Flapsigkeit der knappen Sprüche bedrohen die doch so mühsam geschaffenen Klischees und Images mit Wertverlust.

Die Seen Berlins, der Grunewald und Sanssouci erscheinen kurz hintereinander und auch die eine wenig verschämte Schleichwerbung für eine große Berliner Firma. Man zeigt fast ausschließlich ein BRD-Berlin. Nur eine kurze Mauersequenz ist - nachträglich? - mit einem Kommentar zu den neueren Ereignissen besprochen worden. Offensichtlich ist die Technik noch nicht sehr schnell.

Die Rundprojektion macht uns schwindeln, sie produziert einen widersprüchlichen Illusionismus. Hineingestellt in eine Szene, wird dem Betrachter ein dreidimensionaler Erlebnisraum suggeriert, dessen Realität aber von der Zweidimensionalität des Films angegriffen wird. Sofern das Panorama bemüht ist, eine realistische Szene aufzubauen, haftet ihm in seiner kleinen Verfehlung immer ein leichter Leichengeruch an. Das unterscheidet es vom Fernsehen. Das Fernsehen versucht nicht so sehr, sich einer „ursprünglichen“ (Freiluft-) Seherfahrung anzuschmiegen. Es ist ein Medium, das stark genug ist, eine eigene Wirklichkeit zu entwickeln.

Eigentlich ist das Panorama als Trompe-l'oeil eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Betrachter stand - in Innsbruck oder Paris - in der Mitte eines runden abgedunkelten Raumes, dessen bemalte Wände von oben beleuchtet wurden. Zwischen dem Betrachter und der Wand vermittelten oft dreidimensionale Gegenstände die unterschiedlichen Räume, nämlich den Bildraum und den realen Raum des Betrachters. Diese Szenen waren meist museumsartig eingefroren, wurden aber auch durch Beleuchtungsänderungen, Kulissengeschiebe und lebende Statisten bewegt. Sie rechneten mit dem stehenden Betrachter und dessen visueller Erfahrung. Destination Berlin bezieht sich weniger auf eine Situation, wo der Betrachter wie ein Reh im Wald steht und auf seinen eigenen körperlichen Instrumenten ruhte, die seinen Blickpunkt bestimmen und verändern könnten. Anders als bei statischen Bildern kann bei einem bewegten Film mit Kamerafahrten die Vermittlung der dritten Dimension, die besonders in Nahbereich nötig wäre, nicht durch Gegenstände kompensiert werden.

Eher rekurriert man daher auf andere, der bewegten Raumprojektion ähnliche Erfahrungen wie die Auto-, Fahrstuhl oder Bootsfahrt oder den Flug im Helikopter, kurz: auf Situationen, wo der Mensch wie in einer Pille durch die Suppe reist, und zwar tendenziell in alle Richtungen. Die gesamtkunstwerkartige Idee des 19. Jahrhunderts, alles repräsentieren zu können, wird zur Vorstellung gesteigert, überall hin zu können. Natürlich auch durch die Zeiten; ein Stück Mozartzopfgeschichte fehlt nicht. Wir sitzen also in einer Pille, die sich bewegt, so daß die Landschaft auf uns zufliegt, sich etwas hyperrealistisch und entsprechend der Breite des Saales an uns vorbeiquält, um dann hinter uns in der Ferne zu schrumpfen. Dabei können wir uns umdrehen, und unser Kopilot, die Begleiterstimme, weist uns auf dies oder jenes hin und spricht auch schon einmal ein Berliner Original an, das vorbeihuscht. Zwei- oder dreimal wird die Kamera inmitten einer Menschengruppe postiert. Der Effekt ist dann weniger realistisch - soll man sich selbst als weitere Person imaginieren oder nur als fettes Ufoauge? Die Interaktionsanstrengungen der Offstimme helfen bei dieser Entscheidung auch nicht, denn sie sind nicht besonders überzeugend.

Weil die Technik neu ist, stützt man sich auf Erfahrungen aus geläufigen Verfahren, die sich mit den neuen Bedingungen streiten. So muß der Versuch, die erfüllte Präsenz zu geben, wie in einem Rocky-Streifen, wo der saftige Zeitlupen -Boxschlag mit einem baßtiefen Ton, der abspritzenden Schweißaura des Getroffenen und dem Blitzlicht synchronisiert wird, scheitern: Der Betrachter kann nicht alles sehen, und die bewegte Schale, in der er sitzt, lenkt von der Aufmerksamkeit auf den einzelnen saftigen Gegenstand ab. Aber das Ganze ist trotzdem weniger ein überwältigendes oder erhabenes Erlebnis als ein Rummelplatzvergnügen, und der Kopilot ähnelt dem zahnlückigen Karusselljungen, der den käseweißen, kotzüblen Fahrern sagt: Das war geil, und jetzt noch einmal etwas schneller. „Wollt Ihr?“ - „Ja!“ Am Ende verabschiedet er sich und bedankt sich für die schöne gemeinsam verbrachte Zeit.

Die andere, etwas ältere Variante des Stadttoursimus ist die Busrundfahrt. Das ist schon oft beschrieben worden: Die Sitze werden immer weicher, das Klima im Bus immer konditionierter, und die Scheiben sind leicht getönt. So gleitet der Tourist, vor allen Unebenheiten und Eigenheiten gepolstert, an den Sehenswürdigkeiten vorbei, die er seinerseits mit der Kamera festhält. Man war überall gleich da. Wer statt dessen ein wenig Schwindel, et was 19. Jahrhundert, Leichengeschmack, ein bißchen Technik will, womit man noch nichts Genaues anzufangen weiß, dem sei Destination Berlin empfohlen. Hier sind die Sehenswürdigkeiten wieder kurios; das Reiseabenteuer hat sich in den Zylinder zurückgezogen und bewegt unentwegt vielleicht mehr.

Philipp Weiss

Destination Berlin im „Panorama“, Budapester Straße 38, Berlin 30; ermäßigt acht Mark, ab 11 Uhr stündlich.