: Bewerbung als Hofnarr BH(oder neudeutsch: Medien-Korrektor des Kanzlers) Anmerkung: Diese Stelle wurde aus falscher Bescheidenheit vom Bundeskanzleramt bisher nicht ausgeschrieben
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
(...) In wenigen Wochen werden Sie der Erste Gesamtdeutsche Kanzler im neu entstehenden Hause Europa sein! Ich sehe die Mischung aus gebührendem Ernst und kinderfreundlichem Lächeln auf Ihrem Gesicht schon vor mir. Einem so rundherum glücklichen Menschen und Politiker kann man nur gratulieren! Sie strahlen ja schon über Jahre ein so sonniges Gemüt aus wenn Sie nicht gerade mal beleidigt sind, sind Sie stets „optimistich“. Wohl dem geeinten Volk, das solche kraftstrotzenden und gleichsam empfindsamen Realpolitiker an seiner Spitze weiß! Ich gratuliere Ihnen und diesem Volk gleichermaßen - denn jedes Volk hat die Regierung, die es verdient! Sie entschuldigen, daß dieser Satz nicht von mir ist - ich rede gern in Zitaten, eine Eigenschaft, die Sie aufhorchen lassen sollte und die Sie schätzen sollten. Wahrlich, dieses Volk hat Sie verdient - und Sie, Herr Bundeskanzler, Ihren lexikalischen Einzug als Erster Gesamtdeutscher Kanzler (EGK) nach... Aber das ist „Gechichte“ - Sie haben die „Gnade der späten Geburt“. Das vereint uns - ich bin übrigens noch begnadeter (ein Zufall meiner Eltern). Dennoch: Haben Sie wirklich alles, was Sie sich wünschen, haben Sie alles, was einen Großen der Weltgeschichte auszeichnet? Ich behaupte und bin mir ganz sicher: Eines fehlt Ihnen, Einer fehlt Ihnen. Dieser Eine bin ich - mit Verlaub, Herr Kanzler aller Deutschen.
Durch den Fluch des falschen Wohnortes (DDR) konnte ich Sie, Herr Bundeskanzler, bisher leider nicht wählen - jetzt endlich kann ich Sie nicht wählen, dank der Vorarbeit durch „einige linke Spinner“, des anschließenden Rufes „Wir sind das Volk!“ und Ihres persönlichen Triumphes in Dresden, einschließlich all Ihrer Versprechungen, zum Beispiel: „Keinem wird es schlechter gehen!“ Hier schon hätten Sie mich als Hofnarren gebraucht. Und ich bin jetzt so blank und frei, Ihnen zu sagen: Ich werde Sie nicht wählen!
Diese Aussage allein spricht schon für mich und meine Eignung als Ihr ganz persönlicher Hofnarr. Auch das sollten Sie zu schätzen wissen, wenn Sie meine Bewerbung zu bewerten haben. Sie werden sehen, daß Sie mich brauchen - so wie ich Sie nun brauche: als einzige Möglichkeit ehrlich zu überleben. Wir bedingen einander, stehen zueinander in dialektischer Wechselbeziehung. Verzeihen Sie das Wort Dialektik. Ich rede besser vom „Spiel der freien Kräfte“, vom „Konsens aller Demokraten“ - vor allem aber von „Handlungsbedarf“. Lassen Sie mich zur Sache kommen:
Hofnarren waren (laut Lexikon) seit dem Altertum bis gegen 1800 (gerade Sie sollten das konservative Element neu beleben!) Spaßmacher (die davon leben konnten) an Fürsten und Adelshöfen (warum nicht heute Medien-Begleiter des Kanzlers?). Beschrieben werden Hofnarren als feingebildete Hofleute (ich habe einen Diplom-Abschluß auf künstlerischem Gebiet), geistreiche Zwerge (ich bin im Gegensatz zu Ihrer „Größe“ nur 1,64 Meter groß!), Krüppel (auch seelische, siehe: 40 Jahre DDR), plumpe Possenreißer (siehe meine persönliche Akte bei der Stasi, so sie schon beim BND gelandet ist). Hofnarren trugen Narrentracht (ich trage gegebenenfalls alles, was Ihnen als Ihr Clown beliebt - wenn es kein Zweireiher mit Schlips ist, das zählte mich zu den Tätern!) und führten ein vom Fürsten (oder Kanzler) verliehenes Zepter (ich nehme den Bundesadler an!), klingelten mit Schellen (bei positivem Entscheid meiner Bewerbung würde ich mit Deutschmark klingeln können!). Die Hofnarren waren Lebens- und Überlebenskünstler (das habe ich bewiesen!), waren ihrem Herrn und Gebieter auf Gedeih und Verderben ausgeliefert (wie ich unter der SED und jetzt unter der Deutschen Bank!), ihm also doppelzüngig aber treu ergeben. Hofnarren durften und mußten (privat und öffentlich) ihrem Herrn ungestraft die Wahrheit sagen - sie verbesserten sein Erscheinungsbild (Image würde man heute sagen). Die Analogien sind offenkundig.
(...) Herr Bundeskanzler, erkennen Sie die „historiche Stunde“! Nie war der Zeitpunkt so günstig! Dank Ihrer „weitsichtigen“ Politik und der Wirtschafts- und Währungsunion ist meine weitere Existenz als Künstler der Noch-DDR gottlob mehr als gefährdet - eine Stunde Null sozusagen, in der man Großes angehen kann, frei von Gewohnheiten und Sicherheiten. Ich entwickle Ihnen hiermit mein persönliches Umschulungskonzept (honorarfrei!) mit dem Ausbildungsziel im Selbststudium (ohne zusätzliche Steuergelder!): Ihr ganz persönlicher Hofnarr!
(...) Es ist eine Investition in Ihre politische Zukunft. Machen Sie der Welt vor, wie und mit welchen Mitteln ein Großer regiert! Sie und nur Sie können sich diesen Start leisten - nachdem Sie sogar (nach Dieter Hildebrandt ebenfalls ein Clown dieser Zeit) einen Herrn de Maiziere als Kleingeld ausgeben.
Sie leisten sich hohe Diäten, einen enormen Verteidigungshaushalt, mehrere hochbezahlte Hofschranzen inzwischen auch aus der Noch-DDR, Brüder und Schwestern also. Leisten Sie sich einen Hofnarren! Das ist ohne Steuererhöhungen machbar. Aufgrund der angespannten materiellen Situation, die Sie mit herbeigeführt haben, bin ich billig zu haben: Meine Diätenerwartung beträgt für den Anfang 4.000 bis 5.000 DM monatlich, zuzüglich einer angemessenen Aufwandspauschale. Angesichts meiner Fähigkeiten, Ihnen die Wahrheit zu sagen, ist das nahezu geschenkt, noch mehr angesichts der guten Konjunktur der BRD auf dem Rücken der Noch-DDR.
Wir können bestehen „vor den Augen der Gechichte“ - der Erfolg für uns beide ist vorprogrammiert: für unser geeintes Vaterland, das kleinste Großdeutschland, das es je gab. Ich werde vor den Augen der Welt ihr Korrektiv sein, Ihnen jede meiner Wahrheiten entgegenschleudern, öffentlich und zu Ihrem Ruhm. Mich machen Sie dabei zu einem Menschen, der von der Wahrheit leben kann - machen Sie sich zu einem Kanzler, der medienwirksame Wahrheiten belohnt. So können Sie auch einen Teil der „Altlasten“ abtragen - Ihre nicht eingehaltenen Wahlversprechen. Leisten Sie sich einen Hofnarren - leisten Sie sich meine Kenntnisse und Fähigkeiten. (...) Stimmen Sie meiner Bewerbung durch eine Berufung als Ihr Hofnarr zu.
Jürgen Nagel, Berlin 1157
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