„Die Forderung nach einer unabhängigen Ukraine ist naiv“

■ Alexander Machmudow, der neue Bürgermeister der Bergarbeiterstadt Donezk im südostukrainischen Donbass, ist für den Streik der Bergarbeiter

INTERVIEW

taz: Die Kumpel in ihrer Stadt drohen wieder mit Streik. Bald läuft das Ultimatum vom 11.Juli ab. Wie stehen Sie als parteiunabhängiger Bürgermeister dazu?

Machmudow: Die Schachtiori sind ganz normale Einwohner unserer Stadt wie alle anderen auch. Als Stadtregierung sind wir natürlich an Stabilität interessiert. Wenn sie mich als Bürger fragen, ob ich die Forderungen unterstütze, so sage ich ja. Aber die Streikentscheidung ist die ureigenste Sache der Arbeiter. Wir sind ihnen nicht direkt dabei behilflich, den Streik zu organisieren. Die Forderungen richten sich an das System. Was wir von der Verwaltung her tun können, ist, den Kindern und Frauen der Streikenden zu helfen. Andererseits können wir nichts tun, um den Streik abzuwenden.

Sehen Sie keine andere Möglichkeit?

Eins ist klar, ein Streik hätte eine verheerende ökonomische Wirkung. Heute muß man andere Wege der Therapie für unsere Gesellschaft finden und keinen chirurgischen Eingriff vornehmen, der noch mehr Schmerzen verursacht. Aber zu streiken ist ihr gutes Recht.

Können Sie sich vorstellen, daß die Miliz in Donezk gegen streikende Arbeiter vorgeht?

Bei uns hat die Miliz nur eine Aufgabe, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Bisher haben die Streikenden ihre Verantwortung gegenüber den Bürgern der Stadt sehr gewissenhaft wahrgenommen und mit der Miliz kooperiert. Hier herrscht völlige Übereinstimmung.

Könnte es nicht aber sein, daß Moskau im Falle einer Zuspitzung der Lage den Einsatz der Armee fordert, und zwar von Ihnen? Nicht umsonst war immer wieder die Rede von den Schachtiori, die die Schicksalsfrage der Perestroika stellen. Wie würden Sie sich verhalten?

Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Daß die örtliche Miliz gegen streikende Kumpel vorgeht, ist ausgeschlossen. Natürlich kann die Armee auch ohne Zustimmung der örtlichen Organe auf Geheiß des Innenministeriums eingreifen. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, daß solch ein Fehler nicht gemacht wird.

Wie verhalten sich denn die alten politischen Kräfte zur neu gewählten Verwaltung?

Anfangs hatten wir Probleme. 13 Mitarbeiter der Verwaltung verließen nach den Wahlen demonstrativ ihre Stellungen. Sie wollten uns beweisen: „Seht, ohne uns kommt ihr nicht klar.“ Wir haben es trotzdem geschafft, indem wir die inneren Strukturen des Verwaltungsapparates umgebaut haben. Sogar der zuständige Minister hat uns bestätigt, daß dieser „Eingriff“ erfolgreich war. Ansonsten sind wir bereit, mit allen politischen Kräften auf programmatischer Grundlage zusammenzuarbeiten. Nur liegen bisher von keiner Seite wirklich brauchbare politische Programme oder Vorschläge vor. Na ja, vielleicht in Ansätzen. Grundsätzlich ist die politische Landschaft bei uns aber nicht so polarisiert wie im Westen der Ukraine.

Unser größtes Problem ist aber, den örtlichen Sowjet mit ausreichender Machtbefugnis auszustatten. Wir im Sowjet müssen sie Stück für Stück erobern. Andererseits beschäftigen wir uns schon mit handfesten Fragen: Steigerung der Konsumgüterproduktion und der Bautätigkeit, Privatisierung von Unternehmen, Überführung des Staatseigentums in kleinere kommunale Träger. Und den Bautrust haben wir in Pachtgesellschaften umgewandelt. Wir verlassen die ausgetretenen Pfade der bisherigen Institutionen.

Taucht in Ihren Überlegungen auch die Möglichkeit auf, unrentable Schächte zu schließen? Und wenn ja, wie steht es mit der sozialen Abfederung, Umschulungsprogrammen und Sozialplänen?

All das fällt in den Kompetenzbereich des Kohleministeriums. Die müssen so etwas erarbeiten. Aber natürlich haben wir, ohne auf die Aktivitäten der Zentrale zu warten, unsere Fachleute damit beauftragt, eigene Konzepte zu entwickeln, die sich an Rentabilität und Auslastung der Betriebe orientieren. Alles unter dem Aspekt des Übergangs zur Marktwirtschaft. Wenn die Gesellschaft die Kohle braucht, wird sie dafür auch einen angemessenen Preis zahlen. Umschulung ist eine andere Sache. Wir haben so große Schwierigkeiten in diesem Land, daß es nicht ratsam wäre, dem auch noch ein Arbeitslosenproblem hinzuzufügen. Es fehlt uns an Bauarbeitern, aber Umschulung braucht ihre Zeit, auf einmal geht das nicht. Das Schicksal hat mich hinter diesen Schreibtisch gebracht, auch ich hab‘ das nicht gelernt. Daraus schließe ich, daß Marktwirtschaft bei uns zuallererst eins heißt: Arbeit an uns selbst.

In der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“ herrscht der Glaube vor, durch einen Ausstieg aus der UdSSR ließen sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten schneller überwinden.

Keine Frage, die Souveränität ist eine Selbstverständlichkeit. Ich verstehe darunter aber keine totale Unabhängigkeit. Mit unserem Stand der Technik sind auch die Kooperationsmöglichkeiten mit dem Westen eingeschränkt. Ich halte die Forderung nach völliger Unabhängigkeit also für ziemlich naiv, auch der Glaube, die ukrainische Diaspora im Westen könnte unsere Ökonomie wieder flott machen, ist eine Fiktion. Das Land hat keine Chance, wenn es sich auf den inneren Markt beschränkt. Wir sollten einen internen Markt auf Unionsebene entwickeln. Stellen Sie sich nur einmal vor, womit sich die Deputierten bei der Unabhängigkeit rumschlagen müßten...Mit Raketenstandorten, Zollfragen...Das ist jetzt doch alles sinnlos.

Das Gespräch führte Klaus-Helge Donath