: Die Optimisten und die Realisten
■ Optimisten rechnen die 1,4 Millionen Kurzarbeiter nicht als Arbeitslose / Realisten machen schnell ein Cafe auf
Die weißen Gartenmöbel sind adrett auf den grünen, frisch gemähten Rasen vorm Haus dekoriert, und in dem neu erstandenen Kühlschrank ist hinter der Glastür als Spezialität der selbstgebackene Pflaumenkuchen für nur 80 Pfennig das Stück zu sehen. „Unsere Leute müssen das ja auch bezahlen können“, meint die Wirtin des gerade eröffneten Cafes im kleinen Elbdörfchen Seedorf, gerade gegenüber dem touristisch voll ausgelasteten Wendland im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg.
Sie und ihr Mann, beide noch bei der örtlichen LPG beschäftigt und auf Kurzarbeit gesetzt, gehen davon aus, daß irgendwann in den nächsten Monaten der Entlassungsbrief kommt. Aber mit ihrem Cafe direkt an der vielbefahrenen Elbuferstraße haben sie gute Chancen, der allgemeinen Krisenentwicklung in der DDR zu entgehen. An allen Ecken und Enden in der DDR versuchen Menschen, auf diese oder ähnliche Weise in die neue Zeit zu starten. Aber der vielversprochene Aufschwung nach der Einführung der D-Mark wird aus dieser Kleinökonomie kaum Kraft beziehen können.
Offiziell gab es Ende August in der DDR rund 361.000 Arbeitslose, das entspricht einem Prozentsatz von 4,1. Nach Angaben der DDR-Arbeitsverwaltung hat sich damit der Anstieg der Arbeitslosigkeit in der DDR gegenüber dem Vormonat etwas verlangsamt.
Auch aus der Treuhandanstalt in Ost-Berlin waren in den letzten Tagen beruhigende Töne zu hören. Das Investitionsklima habe sich, so der Treuhandsprecher Wolf Schöde, deutlich verbessert. Die Investoren gäben nun, nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages, zunehmend ihre bisher zögerliche Haltung auf. Mit weit über hundert von ihnen sei man inzwischen in konkrete Gespräche eingetreten.
Auch Ministerpräsident de Maiziere hat inzwischen auf Optimismus umgeschaltet: „Nach dem Winter, mit dem kommenden Frühjahr“ erwartet er eine deutliche Trendwende der DDR -Wirtschaft, und in drei bis vier Jahren, ist er sicher, werde es richtig wieder aufwärts gehen. Nur: Die bislang vorliegenden Zahlen rechtfertigen derartige Vorfreude nicht.
Schon beim Wechsel in der Führung der Treuhand Mitte August hatte allerdings Pressesprecher Schöde verkündet, für hundertzwanzig Betriebe in der DDR gebe es konkrete Verhandlungen mit westlichen Interessenten. Nun spricht er von hundert westlichen Interessenten, ohne nähere Angaben über den Umfang der ins Auge gefaßten Investitionen zu machen. Und der Trend in den Betrieben der DDR zeigt nach wie vor deutlich nach unten.
Wie es wirklich in den Betrieben der DDR aussieht, ist weniger an der Arbeitslosenstatistik ablesbar. Aufschlußreicher sind die Kurzarbeiterzahlen. Denn auf Grund der DDR-Gesetzgebung können Betriebe, denen die Arbeit ausgeht, ihre Beschäftigten zunächst auf Kurzarbeit setzen, anstatt sie gleich auf die Straße zu setzen. Eine Indiz für die Überlebensfähigkeit der Betriebe ist diese Praxis keineswegs.
Die Kurzarbeiterzahlen sind auch im letzten Monat wieder sprunghaft in die Höhe geschnellt: um mehr als das Doppelte von 656.000 auf 1.439 Millionen. Und die ehemalige DDR -Ministerin für Arbeit und Soziales geht davon aus, daß ein großer Teil dieser Kurzarbeiter und Kurzarbeiterinnen „auf null“ gesetzt ist, real also für sie keine Arbeit da ist. Dem entspricht der explosionsartige Anstieg jener Betriebe, die bei der Arbeitsverwaltung der DDR Kurzarbeit angemeldet haben: von rund 6.500 auf 16.500 ist die Zahl der Betriebe gestiegen, die ihren Beschäftigten Anfang September keine oder keine volle Arbeit geben konnten.
Experten schätzen die reale Arbeitslosigkeit in der DDR für Anfang September auf rund 15 Prozent (4,1 Prozent offiziell Arbeitslose plus 16 Prozent Kurzarbeiter minus einen nicht exakt bezifferbaren Anteil von „wirklichen“ Kurzarbeitern). Viele Kurarbeiter werden über kurz oder lang ihren Platz in der Arbeitslosenstatistik wechseln: bis zum Jahresende sind schon jetzt weitere 162.500 Entlassungen angekündigt. Dabei sind die nach der staatlichen Vereinigung anstehenden Entlassungen im öffentlichen Dienst noch nicht einmal berücksichtigt.
Die Kurzarbeit, so predigen die DDR-Sozialpolitiker seit Monaten, solle zu Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen genutzt werden, um die Beschäftigten für moderne Technologie und zukünftig benötigte Arbeiten fit zu machen. Aber nur 34.000 Plätze sind bisher da.
Die Krise in der DDR ist schneller und tiefer, als die Experten bisher geschätzt haben. Noch Ende August hatte das Münchner Ifo-Institut mit 1,5 Millionen offiziell Arbeitslosen für den Durchschnitt des nächsten Jahres gerechnet. Es sieht ganz so aus, als sei diese Zahl schon jetzt erreicht, wenn sie auch noch nicht statistisch ausgewiesen ist.
Immer deutlicher wird auch der Trend gegen die Frauen: ihr Anteil an den Arbeitslosen liegt inzwischen bei 53,2 Prozent mit weiter steigender Tendenz. Wohl denen, die da in günstiger Lage ein Cafe aufmachen können.
Martin Kempe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen