„Ich lass‘ mir nicht Benno Ohnesorg einkassieren“

■ Wieder Enthüllungen im Berliner Gedenktafelprogramm / Die Aktion, die zur 750-Jahr-Feier abgeschlossen sein sollte, hat immer noch kein Ende gefunden / Im Herbst soll über eine mögliche Ausweitung des Programms auf die Ostberliner Bezirke nachgedacht werden

Berlin. Das Graffito an der graubraunen Wand eines Schöneberger Mietshauses konnte gerade noch mit grauer Farbe überstrichen werden. Aber das rot-schwarz beschriftete Flugblatt wollte partout nicht herunter. In Fetzen klebt es an dem unebenen Gemäuer. Und noch etwas hängt da und flattert sanft im Wind: ein weißes Laken, das von einem dünnen Nagel gehalten wird. Eigentlich sollte es nicht flattern. Eigentlich hing es dort, um das zu verdecken, wovon der Redner vor der Wand in sein Mikrophon spricht. Unfreiwillige Komik einer Gedenktafelenthüllung.

Sechs Gedenktafeln werden bis Oktober im Bezirk Schöneberg installiert. Als erstes wurde des Arztes und Schriftstellers Ernst Weiß gedacht. Von 1926 bis 1931 lebte er in der Luitpoldstraße 34 im Bayerischen Viertel. Später floh er vor den Nazis nach Paris, wo er sich am Tag nach dem Einmarsch das Leben nahm.

Die Gedenktafel für Ernst Weiß ist Teil einer Aktion, die ursprünglich bereits zur 750-Jahr-Feier Berlins im Jahre 1987 abgeschlossen sein sollte. Angeregt durch den ehemaligen Charlottenburger Bezirksbürgermeister Eckard Lindemann (CDU), hatte der Rat der Bürgermeister ein Berliner Gedenktafelprogramm beschlossen.

Die Sparkasse der Stadt Berlin West übernahm die Anschubfinanzierung und machte 300.000 Mark für insgesamt 300 Tafeln locker. Nach einigen Querelen darüber, wer das Geld verteilen dürfe, bekam jeder Bezirk 25.000 Mark. Zusätzlich Kosten trugen die Bezirke, etwa für ABM -MitarbeiterInnen, die Recherchen anstellten, oder für die Anbringung der Tafeln.

Ärger gab es aber nicht nur bei der Geldverteilung. Die Vorschläge für die Tafeln kamen aus der Bevölkerung und von den Bezirksverordneten. Nach der Beratung in der jeweiligen BVV wurden die Anträge an den zuständigen Ausschuß weitergeleitet, der dann endgültig entscheiden sollte. So jedenfalls wäre der übliche Weg gewesen. Beim Berliner Gedenktafelprogramm sollte es anders sein. Ein sechsköpfiger wissenschaftlicher Beirat wurde den Bezirken vor die Nase gesetzt, um die Anträge nochmals zu beraten. Gegen das Beraten hatte keiner etwas, aber der Beirat begann, Entscheidungen von Bezirken anzugreifen und zu widerrufen. In Schöneberg ging es vor allem um die Gedenktafel für das Gesangssextett „Comedian Harmonists“. Der Beirat sprach von Schlagersängern, der Bezirk verwies auf die Bedeutung der Gruppe für die Musikentwicklung in Deutschland. Der Bezirk setzte sich durch: Gestern wurde die Tafel in der Stubenrauchstraße 47 in Friedenau enthüllt.

Vorgaben für die Ehrungen gab es nicht. Aber es sollten Menschen gewürdigt werden, die über Berlin hinaus von Bedeutung waren. Trotzdem bildeten sich Schwerpunkte heraus, je nachdem, ob in den Bezirken mehr Arbeiter oder Bürgerliche leben. In Schöneberg liegt der Schwerpunkt im Bereich Kultur. Wilmersdorf gedachte vor allem Verfolgten des NS-Regimes. Dort gründete sich die „Gedenktafelinitiative Wilmersdorf“, ein Zusammenschluß von Interessierten verschiedener politischer Gruppierungen. „Wir wollten, daß die Aktion einen roten Faden bekommt“, sagt Norbert Weitel, einer der Mitglieder. Der Bezirk sei froh über die Vorschläge der Initiative gewesen, weil er das Tempo, mit dem das Programm abgeschlossen sein sollte, nicht hätte einhalten können.

Der Charlottenburger Koordinator des Programmes, Hermann -Josef Fohsel, wollte in seinem Bezirk eine „Inflation von Widerständlern“ vermeiden. Jeder, der nach Berlin komme, müsse sich wundern, wie zwölf Jahre Nationalsozialismus möglich waren, wenn in jedem Berliner Haus ein Widerstandskämpfer gelebt hätte.

Weiterer Streitpunkt: die Gestaltung. Die Bezirke wollten individuelle Tafeln erarbeiten, doch die preisliche Vorgabe ließ nur ein leicht zu vervielfältigendes Modell zu. Außerdem sollten die Tafeln aus einem Berliner Material sein. Die Königliche Porzellanmanufaktur (KPM) gewann mit ihrer Porzellantafel den 1984 ausgeschriebenen Wettbewerb. Das einheitliche Design stieß auf wenig Gegenliebe. Alle Tafeln haben eine blaue Antiquaschrift auf weißem Porzellan. Der Schriftzug „Berliner Gedenktafel“ ist, ebenfalls weiß, hervorgehoben. Schöneberg werde sich, so der Planungsbeauftragte des Bezirksbürgermeisters Johannes Rudolf 1986, nicht an das Modell halten. Man ließe sich nichts vorschreiben. Trotzdem: 1990 sind alle Schöneberger Ehrungen in blauer Schrift auf weißem Grund. Den Spandauern ging die Bezeichnung „Berliner Gedenktafel“ gegen den Strich. Die Spandauer Eigenart würde nicht berücksichtigt, man beteiligt sich als einziger Bezirk nicht am Programm.

Zu dem geplanten Führer zu allen Gedenktafeln zur 750 -Jahr-Feier kam es nicht. Nur kleckerweise enthüllten die Bezirke ihre Würdigungen. Während Charlottenburg und Wilmersdorf bald alles Geld verbraucht hatten, lief die Aktion in anderen Bezirken nur schleppend an. Im Herbst soll darüber beraten werden, ob das restliche Geld nicht neu verteilt werden sollte. Zum Beispiel denke man daran, so Karl-Heinz Metzger, Pressesprecher des Bezirksamtes Wilmersdorf, auch Ost-Berlin mit einzubeziehen.

Fohsel, der auch Koordinator für ganz West-Berlin und daher von Anfang an mit dem Programm vertraut ist, hält persönlich nicht viel von Gedenktafeln. Während der Diskussion über eine Tafel beschäftigten sich ein paar Menschen mit den historischen Persönlichkeiten. Hinge die Tafel dann, liefen die meisten achtlos an ihr vorüber. Und die Politiker, angesprochen auf zum Beispiel das Thema Nationalsozialismus, könnten sagen, „guckt doch, wir tun was“. Fohsel wehrte sich vehement gegen eine Gedenktafel für Benno Ohnesorg. „Ich lass‘ mir von diesem Staat nicht Benno Ohnesorg einkassieren mit so 'ner Tafel“, sagt er. Geschichte, vor allem die jüngere, müsse anders aufbereitet werden. Mit Gedenktafeln könne kein Geschichtsverlust aufgearbeitet werden. Auch passe vieles im Berliner Gedenktafelprogramm nicht zusammen. „Man muß sich fragen, was spiegelt sich da eigentlich wider?“ Hedwig Courts-Mahler und Walter Benjamin in ein und demselben Zusammenhang „ist einfach nicht zu verstehen“.

Christel Blanke