Was man will und was man kann

■ Der erste Tschernobyl-Spielfilm auf der Biennale

Raspad von Michail Belikov ist der erste Tschernobyl -Spielfilm, eine sowjetisch-amerikanische Koproduktion. Ein Film über die Nachrichtensperre der Partei und über die Mischung aus Panik und Ignoranz. Ein Aufklärungsfilm, einer der anklagt, auch Gorbatschow. So die erklärte Absicht des Regisseurs.

Sein Film sieht anders aus; eher wie der eines sowjetischen Regisseurs, der endlich einen amerikanischen Actionfilm drehen darf, mit Autounfällen, flammendem Inferno und Massenszenen. Dutzende von Löschwagen rasen nachts Richtung Reaktor, Hunderte von Bussen evakuieren die Bewohner, Tausende von panischen Bürgern prügeln sich auf dem Bahnhof in Kiew. Alles Statisten. Das konkrete Bild ist gestellt, aber die abstrakte Zahl entspricht der Realität. Luftaufnahmen der endlosen Buskolonne und der menschenleeren Städte und Dörfer: auf der Leinwand nur Landschaft und Häuser und Fahrzeuge, es sieht so harmlos aus, und man weiß, es ist ja nur Spielfilm. Aber die Leere der Städte ist real, ist das wirkliche Pripjat. Diesen Überschuß an Realität, das, was sich nicht mehr fingieren läßt, in Szene gesetzt zu haben, ist nicht das Verdienst von Belikov. Es unterläuft ihm eher. Wenn er aus diesem Können Kapital geschlagen hätte, wäre Raspad tatsächlich ein politischer Film, eine Analyse der Strukturen menschlicher Ignoranz.

James Ivorys Mr. und Mrs. Bridge spielt in der amerikanischen Provinz Ende der 30er Jahre. Ein bürgerlich -konservatives Ehepaar: er Anwalt, sie Hausfrau, zwei Töchter, ein Sohn, eine Villa, zwei Autos. Ein friedliches Leben, nichts geschieht. Zuerst denkt man, Ivory habe diese Erinnerung an seine eigene Kindheit nur verfilmt wegen der Dekors. Erlesene Interieurs in dezenten Farben, perfekt ausgestattet von den Kristallgläsern bis zur Haarnadel. Aber dann bemerkt man etwas anderes: die beiden Hauptdarsteller Paul Newman und Joanne Woodward. Vor allem Joanne Woodward. Mrs. Bridge ist naiv und unselbständig, enttäuscht von ihrem Leben als Hausfrau - das ist Woodwards Rolle. Aber sie spielt sie nicht aus, führt sie nicht vor, sie hält sie eigentlich zurück. Sie lächelt so, daß man weiß, sie möchte weinen, und doch ist es kein weinerliches, kein theatralisches Lächeln. Sie fragt ihren Mann, ob er sie liebt. Er sagt, er sei Anwalt, kein Dichter. Da schließt sie den Mund, legt die Lippen aufeinander, wendet den Kopf nach unten, dann zur Seite. Eine Spur zu ruckhaft. In dieser fast unmerklichen Spur zuviel steckt ihre ganze Tragödie. Ich weiß nicht, ob es Ivorys Absicht war, im friedlichen Ehe -Idyll das Zerstörerische zum Vorschein zu bringen. Ich weiß nur, Joanne Woodward hat es mir gezeigt.

Christiane Peitz