: Stasiarchiv-Besetzer machen weiter
■ Diestel will nicht räumen / „Notenwechsel“ soll Forderungen einvernehmlich regeln
Berlin (taz) - Zum Verbleib von 160 Kilometern Stasi -Akten äußerte sich gestern DDR-Innenminister Peter Michael Diestel (CDU). Das Stasi-Erbe solle die deutsche Einheit nicht belasten, erklärte Diestel. Ziel des deutsch-deutschen Notenwechsels zu diesem Thema sei, die berechtigte Forderung des DDR-Parlaments einvernehmlich zu regeln. Inhalt des Briefwechsels zum Einigungsvertrag sei auch die Frage über das Fortbestehen des Komitees zur Auflösung von MfS/AfNS. Der Leiter des Auflösungskomitees, Günter Eichhorn, berichtete, daß seit März alle 85.500 Stasi-Mitarbeiter entlassen worden waren. Wo der überwiegende Teil jetzt arbeitet, wisse das Komitee nicht. Eichhorn schloß nicht aus, daß die bisherige Zahl von rund 110.000 inoffiziellen Mitarbeitern, Spitzeln und gelegentlichen Informanten bis zu fünfmal höher liege. Der Auflösungschef berichtete, daß nach dem Beitritt der DDR die Treuhandanstalt für die Immobilien und das Vermögen des MfS/AfNS zuständig werden. Eine „institutionelle Aufarbeitung der Aktenbestände“ sieht Eichhorn „im Augenblick gefährdet“ und schlug vor, daß sein Komitee mindestens ein weiteres Jahr die Akten aufarbeiten solle.
Die etwa 30 Bürgerrechtler, die gestern den dritten Tag mehrere Büros im Ostberliner Stasi-Archiv besetzt hielten, will Hausherr Diestel nicht räumen, weil die Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl ihn darum gebeten habe. Die Vorwürfe der Besetzer, daß im staatlichen Auflösungskomitee die Hälfte der Mitarbeiter ehemalige Stasi -Leute sind, bestätigte Diestel auf der gestrigen Pressekonferenz. Man sei auf ihre „Spezialkenntnisse“ angewiesen. Einzelne Mitarbeiter des Auflösungskomitees behaupten, die Ex-Stasi-Leute würden die Aufarbeitung des Datenmaterials behindern.
Die 30 Besetzer, unter ihnen Bärbel Bohley vom Neuen Forum, mittlerweile der ausgebürgerte DDR-Liedermacher Wolf Biermann (mit Gitarre) und die Volkskammerabgeordnete Christine Grabe vom Bündnis 90/Grüne, wollen die Räume in der Normannenstraße besetzt halten, bis das Stasi-Gesetz der Volkskammer im Einigungsvertrag aufgenommen ist. Nach dem Paragraphenwerk sollen die Aktenbestände dezentral in den DDR-Ländern verwaltet werden. Nicht die gesamtdeutsche Regierung, sondern die DDR-Länderregierungen würden dann die parlamentarische Kontrolle über die Geheimdienstakten ausüben.
Ein Sprecher der Besetzergruppe teilte mit, daß DDR -Staatssekretär Krause sie persönlich unterrichten will, wenn er mit seinen bundesdeutschen Verhandlungspartnern vorweisbare Ergebnisse erzielt hat. Gestern wurde die Gruppe vom Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Wilfried Penner, besucht. Er unterstützt die Forderung auf Einsicht in persönliche Stasi-Akten. Seine Fraktion will, daß der Kern des Volkskammergesetzes über die Stasi-Akten im Einigungsvertrag aufgenommen wird. Die Spitzenkandidatin der SPD im Land Sachsen, Anke Fuchs, erklärte, daß Stasi-Akten nur von Personen aufgearbeitet werden sollten, „die in Sachen Stasi-Vergangenheit eine absolut weiße Weste haben“.
Dirk Wildt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen