Den Maulbeerbaum erkennt man kaum

■ Vier 120 Jahre alte chinesische Maulbeerbäume säumen heute die Friedrichshagener Bölschestraße

Friedrichshagen. „Dieser Baum ist tot“, soll die rote Plastikbinde signalisieren, die um den Stamm geschlungen ist. „Das ist er aber noch nicht“, korrigiert Ferdinand Peschel das Urteil, das eine Bürgerinitiative voreilig gefällt hatte. Peschel, der Leiter des Köpenicker Gartenamtes, steht vor dem Maulbeerbaum am Markt von Friedrichshagen - nur einem von vier der aus China stammenden Gehölze, die hier heute noch die Bölschestraße säumen. Tot ist der Baum nicht, trotzdem läßt sich das morsche Holz von Hand aus dem Stammesinneren polken.

Gefährlich schräg neigt sich der Stamm über die Straße. Damit bedroht der Maulbeerbaum nicht nur den Verkehr, sondern bald auch sein eigenes Fortleben. Wie so oft, ist der Stichtag der 3.Oktober. Nach bundesdeutschem Recht müßte der Maulbeerbaum wahrscheinlich längst gefällt werden, vermutet man im Köpenicker Gartenamt. Die Bäume stehen zwar unter Naturschutz, um aber Schadensersatzansprüchen vorzubeugen, ist die Gemeinde vielleicht trotzdem gezwungen, dem morschen Holz den Gnadenstoß zu versetzen.

Dieses Schicksal teilt der Maulbeerbaum am Markt mit mindestens einem weiteren der insgesamt vier Artgenossen in der Bölschestraße. Die vier Vertreter der Gattung Morus Alba sind allesamt um die 120 Jahre alt und damit weit älter, als die Linden, Kastanien und Ahornbäume, zwischen denen sie auf den ersten Blick kaum auffallen. Die Maulbeerbäume sind Überbleibsel: Ursprünglich war die ganze Friedrichshagener Hauptstraße von ihnen gesäumt. Als Friedrich II., König von Preußen, den Ort 1753 gründete, wollte er mit den Maulbeerbäumen die Seidenraupenzucht einführen - übrigens nicht nur in dem heutigen Köpenicker Ortsteil, sondern auch in Potsdam. Nach den Verwüstungen der von ihm angezettelten Schlesischen Kriege wollte der „Alte Fritz“ junges Blut ins Land holen. Besenbinder und die von Friedrich geholten böhmischen Woll- und Seidenspinner sollten Friedrichshagen zum Blühen bringen.

Seidenraupen knabbern schon lange nicht mehr an den Blättern, die Maulbeerbäume blühen aber heute noch in jedem Mai. Weißlich-grün leuchten die brombeerförmigen Beeren, um anschließend sanft zu erröten und am Ende schwarz gefärbt zu Boden zu plumpsen. In der Krone, meint Peschel, da sähen die „triebfreudigen Bäume aus dem Fernen Osten“ heute noch frischer aus als manche Linde. Peschel will deshalb versuchen, die wackligen Stämme wieder aufzurichten. Baumchirurgen, die seit der Wende auch in der DDR ihre Dienste anbieten, wurden schon engagiert.

Im Gartenamt fürchtet man die Proteste von Umweltschützern: Bevor die alten Maulbeerbäume wirklich gefällt werden, so hofft der Gartenamtsleiter, könnten vielleicht einige junge Bäume der Gattung neu gepflanzt werden.

Die Köpenicker Gärtner bemühen sich schon seit Jahren um Sprößlinge: „Wir haben versucht, welche zu bekommen, aber in den Baumschulen der DDR waren sie nicht im Angebot“, klagt Peschel. Nachdem nicht einmal die enge Freundschaft zwischen SED und chinesischer Parteiführung den Engpaß in der Maulbeerbaumversorgung beseitigen konnte, hofft Peschel nun auf die kapitalistische Warenfülle. Er will versuchen, in West-Berlin oder dem Bundesgebiet junge Maulbeerbäume zu erstehen.

Dann könnte auch eine traurige Lücke wieder geschlossen werden. Ausgerechnet vor der Gaststätte „Zum Maulbeerbaum“ fehlt nämlich ein Exemplar von Morus Alba. Peschels Plan: „Da soll wieder einer hin.“

Hans-Martin Tillack