„Die Sonne scheint - Walter Momper kommt!“

■ Wahlkampfauftakt der SPD in der Mark Brandenburg / SPD-Kandidat Stolpe blickt in den Alltag seiner Landeskinder / Berlins Regierender Momper vor jubelnden Nauener Bürgern / Im Brennpunkt steht das Problem der niedergehenden Landwirtschaft

Nauen. Fast wäre das geplante Duo Stolpe/Momper zum SPD -Wahlkampfauftakt im Land Brandenburg nicht zustandegekommen. Berlins Regierender hatte bis zum Freitagnachmittag auf einer anderen Hochzeit zu tanzen: Der Bundesrat in Bonn beschäftigte sich in erster Lesung mit dem Einigungsvertrag. In Nauen war die Veranstaltung schon voll im Gange, als Momper vorfuhr. Auf dem Weg zur Rednerbühne zerteilte er händeschüttelnd die Menschenmenge. Rund 500 Nauener waren versammelt. „Die Sonne scheint. Walter Momper ist da. Was soll jetzt noch passieren“, begrüßte SPD -Spitzenkandidat Manfred Stolpe seinen Wahlhelfer. Jener war voller Freude über das Zusammentreffen mit den „lieben Nachbarn in Nauen“ - natürlich nicht ohne an ihren Sorgen zu denken. Optimistisch in die ländliche Zukunft blickend, jubelte Momper über abgetragene „Schweineberge der Modrow -Zeit“ und wußte vom Begehren Westberliner Gemüsehändler nach Kirschen aus dem Havelland zu berichten.

„Einige von Ihnen“, verkündete er den Anwesenden, „werden ihre Arbeitsplätze verlassen müssen. Doch genauso sicher ist, daß neue Arbeitsplätze im Bereich der Dienstleistungen und durch Neuansiedlung entstehen.“ Mit reichlich Beifall bedankten sich die Bürger für das nette Wortgeklingel. Bürgermeister Wolfgang Seeger hingegen rechnet damit, daß bis Ende 1990 die Schmerzgrenze von bis zu 25 Prozent Arbeitslosen erreicht sein wird.

Den Blick in diese Realität hatte der ehemalige Konsistorialpräsident von Berlin-Brandenburg, Stolpe, dem Berliner Parteikollegen voraus. Daß er gerade Nauen, das baufällige 12.000-Seelen-Nest an der F5 ausgewählt hatte, um in den Alltag seiner Landeskinder hineinzublicken, schmeichelte den SPD-Lokalgrößen. Sie nahmen es als Lob für die zu den Kommunalwahlen erkämpften 38 Prozent der Wählerstimmen. Doch die Schritte des hohen Gastes wurden nicht in die unrentable Zuckerrübenfabrik am Ort gelenkt, die mit ihrer vorsintflutlichen Verarbeitungstechnik nur noch als Museum taugt, sondern in die Landmaschinenfirma „Nautech“. Das geringere Übel, denn dieses Unternehmen steht ebenfalls kurz vor der Pleite. Spezialisiert auf die Fütterung in Rindergroßanlagen ist „Nautech“ in den Sog der niedergehenden DDR-Landwirtschaft geraten. 15 Kollegen wurden zur „Marktbearbeitung“ abgestellt und putzten Klinken bei alten Kunden - ohne Erfolg. 40 Westfirmen, zu denen die Geschäftsführer Kontakt aufnahmen, wurden sogar Teile des Unternehmens zum Verkauf geboten. Sie bissen nicht an. Die Abmagerungskur ist beschlossen: Schon jetzt arbeitet ein Drittel der insgesamt 550 Kollegen kurz.

Die Bitte um Hilfe beantwortete Stolpe mit der Überzeugung, „daß wir ganz entschlossen was tun müssen“. Woher er diese Gewißheit nehme, platzte einem jungen Schlosser der Kragen. Wie soll er optimistisch bleiben, wenn der Kombinatsdirektor von gestern den neuen Geschäftsführer mieme, obwohl er kaum mehr Ahnung von Marktwirtschaft habe als die Belegschaft.

Durch die buckligen Straßen der Stadt, begleitet vom allgegenwärtigen Konterfei des Spitzenkandidaten, rauschte die Wagenkolonne zum Nauener Krankenhaus. 1906 wurde es mit Geldern der Kommune erbaut und in den 20er Jahren erweitert. Seitdem ist nicht mehr viel passiert. Die geflickten Kessel des Heizhauses, lebenswichtig für den Krankenhausbetrieb, überstehen den Winter nicht , stimmt der Chefarzt den Gast auf den Abstieg in den stickigen Keller ein. Das Krankenhaus im benachbarten Staaken, mit dem die Nauener bisher gemeinsame Sache gemacht haben, wird mit dem 3.Oktober Berlin zugeschlagen. „Wir würden Überkapazität nach Spandau bringen und hier Patienten zurücklassen“, sagt Chefarzt Hampel aus Staaken. Genauer gesagt: Das Staakener Krankenhaus würde geschlossen, weil Berlin keinen Bedarf hat. Nauen müßte zusehen, wie es mit dem Patientenstrom klarkommt. Die Versprechungen, die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten, überließ Herr Stolpe dem abwesenden Momper.

Doch der hatte einen anderen Text gelernt, versprach niedrige Mieten für eine Übergangszeit und ging dann auf die oppositionelle Vergangenheit des Kandidaten Stolpe ein. Die Bürger waren beeindruckt vom hautnahen Gespräch. Die weichen Birnen wurden nicht wie andernorts auf den Sakkos der Polit -Werber plaziert, sondern artig als Wegzehrung beigegeben, mit dem Wunsch für einen festen Biß bei harten Nüssen. Wohl bekomm's, Herr Stolpe!

Irina Grabowski