Aber schön war's doch

■ Das Ende der Gelage und neue Kneipenfreuden in Berlin

Seit die Tage so trübe sind, daß einem nur drei Dinge bleiben: sich verlieben, besaufen oder Gedichte schreiben, versuche ich alle drei. Nur mit einem klappt's richtig, dem zweiten. Leider wird mir dabei immer trüber zumute, so schlimm, daß auch die anderen beiden Vorhaben verwässsert werden. Solange die Cafes noch ihre flotten Sonnenschirme draußen hatten, die mit den bunten Zigarettenreklamen, konnte man mit Kellnerinnen flirten und sich mal so richtig toll mit der Bestellung nach einem alkoholfreien Bier hervortun. Man konnte, wenn man mal was Stärkeres getrunken hatte, das Mädchen am Nebentisch fragen: Willst du meine Freundin werden? Und sie hat auch noch richtig nett drauf reagiert und später von David Bowie geschwärmt. Aber jetzt: Es regnet, regnet ... Die Sonnenschirme sind passe, und man muß sich ernsthaft fragen, was uns der Westen noch gebracht hat.

Zuerst mal sind die Kneipen leer. Wo früher Gelage tobten, stehen jetzt nur zwei Typen am Tresen, die so aussehen, als hätte sie der Wirt selbst engagiert. Wenn man als einziger Gast einen der freien Tische besetzt, tänzelt der Kellner heran, der früher zehnmal unbeteiligt vorbeigeschlurft ist. Er nimmt die Bestellung mit achtungsvoller Miene entgegen, und bevor man seine Zigarette halb geraucht hat, steht das Essen auf dem Tisch. Das sieht besser aus als damals, schmeckt aber nicht mehr und kostet das Dreifache.

Dann kommt der zweite Gast herein, direkt auf meinen (!) Tisch zu, fragt, ob noch ein Platz frei sei, und bestellt (ich hab‘ mich nicht verhört:) eine Flasche Wein. Na gut, die schluck‘ ich auch manchmal weg. Aber dann bringt der Kellner so 'ne dickbäuchige, zu der mir allein in der Kneipe wahrscheinlich jeder Nerv fehlen würde. Im überfüllten „Mosaik“ an der Prenzlauer Allee konnte man früher gut und gerne 'ne ganze Flasche bestellen, einerseits um die Kellnerin zu schonen und andererseits weil man sowieso noch jemanden zum Quatschen und Teilen getroffen hat. Aber das hier? Ein Bild des Jammers. Kultisch wird auch noch das alberne Kosten-Schmecken-Zustimmen durchgemimt. Der Kellner wartet höflich ab, obwohl er zuvor gefragt hatte: Den Lieblichen wie immer? - Da erst fällt bei mir der Groschen: Wir spielen nicht mehr Westen, wir sind mittendrin! Und spielen die Überlegenen, bis zur einsamsten Lächerlichkeit. Man ist ja wer, als echter Deutscher, erklärt man dem Möbelstück gegenüber.

Aber wo sind all die Typen geblieben, die früher über so 'ne Szene witzeln konnten, selbst mit dem Stockfisch neben mir? Denen ist es hier natürlich zu teuer. Nur Fredi Matuschke vom Prenzelberg scheint die Lage weiter im Griff zu haben: „Man sollte eigentlich nur noch als Zechpreller rumziehn“, fällt mir sein letztes Statement ein. Dann zahle ich brav und merke, daß ich nicht das Zeug dazu hätte, dem sinnlos gewordenen Laden die Fenster einzuschmeißen.

Draußen auf der Straße laufen alle ohne Blick herum, tragen ihre Einkäufe zum neuen Wagen. Man sieht keine lustigen Leute, die sich selbstbewußt umsehen, weil ihnen der Tag gerade Spaß macht. Die Augen sind auf den eigenen Bauch oder das nächste Einkaufsziel gerichtet. Es ist leer geworden in den Gesichtern auf unseren Straßen. Ein gelegentliches Lachen riecht nach Alkohol. Angst geht um und Mißtrauen. Wer Arbeit hat, hält sich an diese. Hält sich sonst raus. Hält sich nicht weiter auf, mit Zweifeln etwa.

Wir werden neu geregelt und zerreißen uns in den Erinnerungen. Nichts mehr kann geborgen sein. Der alte Haß hat keinen Boden mehr. Die Träume von einst sind leck und stinken. Nur nicht dran rühren. Wir verzeihen uns gegenseitig, damit verbessern wir unseren Ruf, auf den keiner hört. Die Solidarität der Vergangenheit schlägt der Gegenwart ins Gesicht. Man sucht neue Freunde im Ausland, während hier die Ausländer Freunde brauchten. Man ergötzt sich an fremden Sitten, kehrt zurück und verflucht das Fremde, das hier stört. Der Hohn spottet jedem Lachen.

Aber, stell dir vor: Es gibt noch ein kleines Gartenlokal (ich werd‘ mich hüten, nur den Stadtbezirk zu nennen), wo die Welt manchmal in Ordnung ist. Nichts Besonderes, alles ganz normal, bescheiden, so mit Lichterketten, wackligen Tischen, alles hoch umwachsen. Das liegt so versteckt, daß kein Wessi es finden kann. Die Wirtsleute waren natürlich in Panik wegen der neuen Preise und fehlender Gäste. Sie haben auch schon grelle Werbetafeln für die Vorüberfahrenden erwogen. - Aber denkste! Die Wirtschaft bleibt versteckt, die neuen, lebensfrohen Gäste sind: Roma und Sinti. Im Garten wird getanzt, mäßig getrunken, viel gelacht. Die Frauen tragen bunte Röcke, die Männner dunkle Anzüge. Die Szenerie ist so verblüffend, daß man Angst hat, sie könnte schon im nächsten Augenblick verschwunden sein. Das tut sie auch. Und manches stimmt vielleicht nicht ganz. Aber schön war's doch, für einen Moment.

Fritz Viereck