„Ein Stück Erwachsenwerden“

■ 21 Behinderte des Martinshofs feierten gestern ihr 25. Arbeitsjubiläum / Werk-, aber keine richtigen Arbeitsverträge

Das lange Klingeln erinnert unwillkürlich an vergangene Schulzeiten. Langsam werden Teller, Tassen und Besteck abgeräumt: Ende der Mittagspause im Martinshof am Buntentorsteinweg, einer Werkstätte für überwiegend geistig Behinderte.

Langsam füllt sich die Lohnfertigungshalle 202. Nach etwa zehn Minuten sitzen die 60 MitarbeiterInnen wieder an ihren Plätzen. Einzelteile für Sonnenschutz-Rollos werden hier zusammengesetzt, eine oftmals recht knifflige Tätigkeit. Da müssen durchsichtige Plastikröhrchen in verschiedene Bausteine gesteckt, breite Ringe ineinandergeschoben und Rädchen festgezogen werden. Auftraggeberin ist die Bremer Firma Bautex.

„Das Gute an dieser Arbeit ist, daß man sie in ganz viele Arbeitsgänge zerlegen kann, mit unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen. Da haben auch die Schwächeren die Möglichkeit mitzumachen“, erklärt Manfred Scheve, der Gruppenleiter.

Bereits 14 Jahre arbeitet er hier mit den Behinderten zusammen. „In unseren besten Zeiten haben wir manchmal am Tag 35.000 Stück geschafft, aber die Montage war auch wesentlich leichter. Heute schaffen wir so 15.000.“ Das gestern 21 der MitarbeiterInnen im Rathaus anläßlich ihres 25. Arbeitsjahres gefeiert wurden, findet Scheve „ganz wichtig“. Das sei „eine Bestätigung, daß sie auch was geleistet haben und daß sie dafür auch anerkannt werden“.

Ursula Pohlhaus, deren Arbeitsplatz dirakt am Fenster liegt, hat von dem Jubiläum nichts gewußt. Stolz lächelnd erzählt sie, daß sie schon seit 1974 hier arbeitet. Nein, eine bestimmte Stückzahl muß sie nicht schaffen, und überhaupt, nett sei es hier. Ruhig schiebt sie ein Teilchen in das andere und verteilt die fertigen Stücke auf einem Tablett.

Peter, seinen Familiennahmen weiß er nicht, der links in der Halle Pappkartons mit drei verschiedenen Marmelade-Portionstöpfchen aufeinanderschichtet, hat vergessen, wie lange er schon hier ist. „Vier Paletten habe ich schon fertig und mit Folie umspannt, damit sie nicht rutschen.“ Auch er fühlt sich offensichtlich wohl, „weil die Kollegen so prima sind“.

In den anderen Werkhallen, die sternförmig um den Speiseraum angeordnet sind, werden Werkzeugtaschen gefüllt und verpackt, Wasserkanister für Mercedes montiert. 1.200 Beschäftigte arbeiten insgesamt im Werkbereich des Martinshofes. „Für all diese Leute ist der Arbeitsplatz im Martinshof ungeheuer wichtig“, sagt Anna Storath, als Sozialpädagogin seit drei Jahren am Buntetorsteinweg. „Dieses Täglichzur-Arbeit-Gehen stärkt das Selbstbewußtsein und ist ein Stück Erwachsenwerden.“ Dennoch hat bisher keine/r der Beschäftigten eine Chance, ohne Sozialhilfe zu leben.

Die Zahlen sprechen für sich: 105 Mark Grundgehalt erhält jede/r plus Zuschuß, je nach Arbeitsplatz 50 bis 235 Mark. Erst nach 20 Jahren gibt es die Möglichkeit, selbstständig zu leben, dann nämlich erhalten Behinderte nach neuem Gesetz 800 Mark Erwerbsunfähigkeitsrente. Vorher bleibt oft nur der Weg zum Sozialamt, auch wenn man bei den Eltern lebt.

Was dringend ändersbedürftig sei, so Storath, wäre, daß Behinderte beim Martinshof einen richtigen Arbeitsvertrag bekämen. Bisher besteht nur ein sogenannter Werksvertrag, eine Vereinbarung, die aber arbeitsrechtlich gar nicht einklagbar ist. Birgit Ziegenhagen