Zwischen Pathos und Depression

■ Litauische Literaten im Haus der Kulturen der Welt

An drei Abenden lasen fünf Autoren und eine Autorin aus der baltischen Republik aus ihren Werken. Vorgestellt wurde eine Literatur, die sich im Umbruch befindet und noch keinen eigenen Weg aus der sowjetischen Kultur heraus gefunden hat.

Die litau. Lit.«, so steht es in Meyers großem Handlexikon des gesamten Wissens (Ausgabe 1974), sei »reich an alter Volksdichtung (Märchen, Sagen und Dainas)«. Aber einiges ist in den letzten 200 Jahren außer Folklore und baltischen Volksmärchen doch noch dazugekommen: Im Anschluß an den »Klassiker« Kristijonas Donelaitis (1714-80) entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine romantische Literatur, durch die das litauische Nationalbewußtsein derart aufblühte, daß der russische Zar ein Verbot erließ, Bücher in lateinischen Lettern zu drucken. Trotzdem überlebte die litauische Romantik, und auch als nach der Jahrhundertwende der Symbolismus und später der Futurismus in Litauen aufkamen, dachte sie nicht daran, abzutreten. Die verschiedenen Strömungen lebten eigentlich friedlich nebeneinander, erlebten nach dem Ersten Weltkrieg die Unabhängigkeit Litauens und wurden während des Zweiten zusammen mit ihr abgeschafft. Der sowjetischen Okkupation 1940 im Zuge des Hitler-Stalin- Pakts folgte dann auch in Litauen die Aufspaltung der Kultur in die Sphäre der Emigration, die offizielle Sphäre und, nach Stalins Tod, die Dissidentenkultur.

Aus der Sowjetliteratur, in die sie damals stillschweigend eingemeindet wurde, ist die litauische Literatur inzwischen wieder ausgetreten. Und damit das hier nicht ganz unbemerkt bliebe, veranstaltete das Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Colloquium und dem Übersetzer Cornelius Hell eine Litauische Woche, die vom 5. bis 7. September stattfand. Drei LyrikerInnen, zwei Erzähler und ein Literaturkritiker waren eingeladen worden, um einen Eindruck vom gegenwärtigen literarischen Leben des Landes zu vermitteln. An den drei Abenden zeigte sich vor allem eines: Bei dem Versuch, sich aus dem Zusammenhang der sowjetischen Kultur und Literatur herauszuarbeiten, können sich die Autoren nirgendwo festhalten. Es gibt nichts »Eigenes«, das nach der »Befreiung« wie von selbst hervorbrechen würde. An die Traditionen der Vorkriegszeit läßt sich nicht mehr recht anknüpfen, eine neue, nationale Identität stiftende Literatur kann heute schon gar nicht erfunden werden. Und ebenso lächerlich wäre die Forderung, daß die litauischen Schriftsteller jetzt gefälligst nachsitzen sollten, bis die westlichen Trends der letzten vierzig Jahre alle aufgearbeitet sind. Trotzdem wird beides versucht, denn irgend etwas muß schließlich versucht werden, und meistens kommt dann etwas anderes dabei heraus.

Das Bemühen, neue Anknüpfungspunkte zu finden, drückte sich in allen Texten aus; zugleich blieb der — positive wie negative — Bezug zur sowjetischen Literaturtradition unverkennbar. Das trat am deutlichsten bei den Erzählungen von Juozas Aputis und Ricardas Gavelis zutage. So unterschiedlich sie sonst waren, war ihnen doch gemeinsam, daß es handwerklich konservativ gemachte Geschichten mit festem Handlungsrahmen und moralischer Quintessenz waren. Gavelis' Bericht über Gespenster ist beinahe klassische »Schubladenliteratur«, wie sie viele sowjetische Schriftsteller in der »Giftmappe« aufbewahrten. Der Bericht, 1983 geschrieben und fünf Jahre später veröffentlicht, beginnt mit der ausführlichen Lebensbeichte seines Verfassers, eines pensionierten Geheimdienstlers, der von Kindheit an zwei Interessen hat: Ethik und Zoologie. Auch seine Arbeit beim KGB dient ihm eigentlich nur zur praktischen Überprüfung seines Lebenswerks: einer »ethischen Theorie«, und zwar der, daß wahrhafte Unschuld belohnt wird. Das größte Problem ist die Suche nach einem wahrhaft Unschuldigen, »einem Menschen, den ich, wenn ich ihn in meinem Arbeitszimmer angetroffen hätte, sofort hätte freilassen können. Vielleicht gibt es solche Menschen nicht.« Am Ende seines Lebens steht der Pensionist vor sich selbst als der eine wahrhaft Unschuldige da, nach dem er sein Leben lang gesucht hatte. Aber die »moralische Belohnung«, die der Autor ihm zugedacht hat, besteht in dem Besuch von Gespenstern, denen der Vergangenheit. Die ethische Theorie des Offiziers i.R. ist exakt die seines Autors, der die dualistischen Schemata von Gut und Böse, Schuld und Unschuld, das unausweichliche Urteil der Geschichte bloß gegen seine Figur kehrt. Und in gewisser Weise verkennt sich der Autor dabei ebenso selbst wie seine Figur, wenn er glaubt, daß nur er sie durchschaut habe.

Gavelis' Geschichte läßt sich — ganz ähnlich wie der Wunsch nach Rückkehr zur Tradition oder die in den Äußerungen mehrerer Autoren anklingende Forderung, zwischen Literatur und Publizistik, zwischen Politik und Poesie scharf zu unterscheiden — als Versuch verstehen, alte Grenzen neu zu ziehen, verlorengegangene Begriffe zu rekonstruieren. Auf solche Versuche wird in der spät- und postsowjetischen Kultur ein guter Teil Energie verwandt. Ihr Scheitern ist abzusehen; sie sind aber weniger ein Ausdruck von »Rückwärtsgewandtheit« als Indiz eines Mangels. Begriffsmüll kann da produziert werden, wo neue Begriffe zur Verfügung gestellt werden, wenn die alten außer Gebrauch kommen; wo Begriffe aus dem Verkehr gezogen werden, ohne daß neue hinzukommen, werden die halbwegs haltbar gebliebenen zur Not einmal zu oft repariert. Und im fortgesetzten Bemühen um die Wechselbegriffe »Gut«/ »Böse«, »Schuld«/»Unschuld« zeigt sich auch das Bedürfnis einer Gesellschaft, die sich lange und gründlich jenseits von Gut und Böse befunden hat, schleunigst auf die andere Seite zu desertieren.

Die Geschichte der Okkupation, der Massendeportationen und der Kolonisierung durch die Sowjetunion lastet wie ein Alpdruck auf der litauischen Kultur. Vielleicht lag es auch an der Textauswahl, daß der Eindruck einer allgemeinen Bedrückung sich so sehr in den Vordergrund schob: das Gefühl, daß die Texte von etwas getrieben werden, wofür sie keine Sprache finden, was sie aber auch nicht verschweigen können. Gerade bei den Gedichten schlug sich das immer wieder in Anspielungen, Metaphern, aber oft auch in einem depressiven Pathos nieder, das zumindest in den Übersetzungen durch nichts aufgefangen oder weitergetragen wurde und manchmal auch ausgeborgt war.

Über die bloße Vermittlung der immer wieder neuen Suche danach, wie »etwas« gesagt werden soll, gelangte am letzten Abend allein Vytautas Bloze hinaus. Bloze, mit 60 Jahren der älteste und bei weitem vitalste der Autoren, verkleidet in seinen Gedichten die Sprache nicht. Es geht ihm nicht darum, sie vor Vereinnahmung zu schützen oder sie zu besetzen, er läßt sie arbeiten, befreit sie von Beschränkungen und stört sie, wenn sie indifferent werden will.

In dem Gedicht Die Rose erzählt er von der jahrzehntelangen Lagerhaft seiner Schwester und seiner Mutter nach der Okkupation und auch von seinen eigenen Lagererfahrungen. Er flüchtet sich dabei weder ins Anklagen noch in Sarkasmus oder Innerlichkeit, und so wurde am Ende der Litauischen Woche noch eine Erfahrung zur Sprache gebracht, die sich über die ganze Veranstaltung hin verschwommen im Hintergrund aufgehalten hatte und ohne die die litauische Literatur jetzt nicht so wäre, wie sie ist.

Nach der Lesung korrigierte Vytautas Bloze den Literaturkritiker Petras Brazenas, zugleich Erster Sekretär des litauischen Schriftstellerverbands, der auf einem Pressegespräch über ihn gesagt hatte, er habe nichts geschrieben, »dessen er sich zu schämen brauche«. Die Sache sei komplizierter. Er habe während seiner Lagerzeit unter Vormundschaft gestanden und damals auch einiges geschrieben, »was mir nicht zur Ehre gereicht«. An dieser Korrektur wurde noch einmal deutlich, daß die Literaten aus Litauen die größten Schwierigkeiten noch vor sich haben. Und auf einmal schien es merkwürdig, daß niemandem eingefallen war, sich genauer nach der gegenwärtigen Rolle des litauischen Schriftstellerverbands zu erkundigen. Anselm Bühling