„Wir sind hier in Deutschland!“

■ „Die Mauerbrockenbande“ —Deutsch-deutsches Familienfernsehen. ZDF, 20.15 Uhr

Unter dem neugierigen Blick eines VoPos hämmert eine 12jährige wild auf bunten Mauerstücken herum. „Wahnsinn“, kräht sie, „ich kann's gar nicht fassen!“ Mit dieser arg strapazierten Floskel aus dem Winter 89/90 beginnt eine so alltägliche wie unglaubliche Geschichte aus der Zeit, als in Berlin die Mauer fiel.

Die Ostberliner Familie Jehring flieht im Sommer '89 über die ungarische Grenze in den Westen. Die zwölfjährige Marion wird nicht gefragt und kann ihrer Freundin Sybille später am Telefon aus West-Berlin nur noch versichern, daß sie weder abhauen, noch Sybilles Luftmatratze in Ungarn zurücklassen wollte. Auch ihren Freund Gerd hat Marion ohne Abschied verlassen müssen.

Sie lebt nun mit ihren Eltern in einem Container-Lager für Übersiedler, gar nicht weit von ihrem alten Zuhause und doch Lichtjahre entfernt: Die Mauer steht noch. Es ist die Zeit der Massenfluchten. Der einziger Freund der Zwölfjährigen im Westen ist der polnische Junge Jacek, eigentlich kein Umgang für eine Deutsche. Die beiden unterstützen sich gegenseitig in ihrer Isolation und verlieben sich schließlich ineinander.

Und dann geht die Mauer auf. Marion findet einen Weg zu ihren alten Freunden. Trifft Gerd wieder, den seine Mutter eiskalt sitzengelassen hat, als sie mit Freund und Baby in den Westen abgehauen ist und Sibylle mit Bruder Kläusi, deren Vater, ein autoritärer SED-Bonze, allmählich verunsichert zusammenklappt — ein Nervenbündel, das die Welt nicht mehr versteht.

Unter fachkundiger Anleitung des cleveren Jacek verkaufen die Kinder Mauerbrocken entlang des „antifaschistischen Schutzwalls“ zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor — eine Gegend, die sich inzwischen zum Abenteuerspielplatz gemausert hat auf dem ein ständiges internationales Volksfest im Gange ist. Durch einige Abenteuer zwischen Ost und West pendelnd, suchen die Gören nach dem Ort, wo sie hingehören.

Der Film verzichtet auf nichts, was in dieser verrückten Zeit so alles passierte: ungarische Fluchten, Polenmarkt und -haß, Übersiedlerkonflikte, der glückliche Taumel am 9. November, der SED-Bonze und die Schnäppchen-Macher, die Begrüßungsgeldschlangen, die Mauerspechte, die Hurra-Patrioten — alles wird verwertet. Und zum Schluß steigt Honecker als Papier-Drache über einem Schulhof auf. Glücklicherweise bleibt es nicht bei der nostalgischen Rückschau auf den abenteuerlichen Wende-Alltag der Maueröffnung. „Die Mauerbrockenbande“ erzählt den rasanten Lebens- und Wertewandel aus der Sicht derer, die man nicht gefragt hat: der Kinder.

Die Wahl der Darsteller hat den authentischen Eindruck sicherlich unterstützt: Ossis werden von Ossis gespielt, Wessis von Wessis. Die Idee zum Film entstand im ZDF prompt nach dem 9. November und es mußte alles sehr schnell gehen. Denn die Geschichte, auf die der Film seinen subjektiv-pointierten Blick wirft, lief rasant weiter und während an der Mauer noch gedreht wurde, wurde sie vor laufender Kamera auch schon abgerissen. Dem Drehteam kam es wie eine Sensation vor, zwischen den Grenzübergängen Chausseestraße und Bernauer Straße zu filmen, zu einer Zeit als der Todestreifen noch kein Sonntagsspaziergang-Gelände war, sogar im damals gerade aufgemachten „Linden Hotel“, dem einstigen Stasi-Gefängnis in Potsdam, entstanden einige Aufnahmen.

„Ich kannte die Familien, von denen ich später in der ,Mauerbrockenbande‘ erzählte“, sagt Autor Wolfgang Kirchner, der Dutzende von Interviews im Übersiedlerlager in der Spandauer Streitstraße führte. Kirchner ging auch in Berliner Schulen und redete über die Problematik mit den Schülern. Bei den in aller Eile erfolgenden Recherchen wurde er vom Ostberliner DEFA-Regisseur Lotz („Rückwärts laufen kann ich auch“) unterstützt.

Daß es der Produktion mit dem Kinder-Sicht-Anspruch ernst ist, beweist vor allem das starke, aber ganz und gar unsentimentale Spiel der Kinder-Darsteller. Die Parteinahme zugunsten der Kinder verzerrt die geschichtlichen Ereignisse insofern, als daß sie sie ins rechte Licht rückt, um in diesem Konsum- und Hurra- Deutschland-Taumel auch mal an die emotionalen Kosten des ganzen Theaters zu denken. Das hört sich nun wesentlich moraliner an, als es der Film tatsächlich ist, und die kleinen Früchtchen können auch gewaltig nerven. Wie zum Beispiel mit ihrer dummen, maßregelnden Arroganz gegenüber dem polnischen Jacek: „Wir sind hier in Deutschland!“ Doch wenn ein aufgebrachter deutscher Lager-Insasse (mit Bundesadler an der Mütze) den Jungen verprügel will, dann wirft sich die zwölfjährige Marion wie selbstverständlich dazwischen. Regina Weidele