Mauerkunst — Lebenskunst

Reflexionen über die Berliner Mauer im Moment ihres Verschwindens  ■ Von Wilhelm Schmid

Trister Himmel über Berlin. Regenpfützen bilden sich, schwere Tropfen lassen kleine Wasserfontänen hochschießen. Unter bunten Regenschirmen verborgen huschen Gestalten vorbei, ungewöhnlich viele, aber das muß mit diesem Ort zusammenhängen, der seit Monaten belebt ist wie sonst nur der Ku'damm: Die Meile zwischen Brandenburger Tor, Postdamer Platz und Martin-Gropius-Bau läßt ihr künftiges Leben ahnen; die Postdamer Straße als Zubringer wird dem Ku'damm noch den Rang ablaufen. Einstweilen liegt noch eine friedfertige Ruhe über dem Areal. Gibt es einen reizvolleren Moment als diesen, in dem die Herrschaft des Alten bereits gebrochen, die des Neuen aber noch nicht angebrochen ist? Die Geschichte steht still in diesem Moment, während sie voller Bewegung ist.

Daß der Regen wenige abhält, hier spazierenzugehen, hat zudem mit den bequemen Wegen zu tun, die die Grenztruppen hinterlassen haben, nachdem sie ihre letzte Patrouille zwischen den Mauern liefen (doppelt gemauert hält besser, sagte sich Honecker; noch 50 oder 100 Jahre). Wer vordem an Regentagen im Dreck watete, wenn er am Sonntag nachmittag oder an irgendeinem Abend im Dunkeln die Mauer entlangschlich, der passiert nun mit ausgreifenden Schritten den Martin-Gropius-Bau auf der rechten Seite, das ehemalige preußische Herrenhaus (das Parlament der Junker, eine Art „Oberhaus“) auf der linken Seite und steuert den Checkpoint Charlie an.

Die Mauer ist nicht mehr da. Man sieht sofort die Mauer, die man nicht mehr sieht. Die Horizontlinie, die sie dem Auge gewohnheitsmäßig bot, ist verloren. Die Welt, die doch hier zu Ende war, geht weiter. Wo vordem zwei Städte sich gegenüberstanden, einander fremd wie zwei Planeten, da ist nur noch eine, die riesig ist. Nur weil eine Mauer verschwand. Ein mickriger kleiner Rest in Höhe des Martin-Gropius-Baus wird nicht mehr lange überleben. Zunächst dazu gedacht, der Nachwelt einen Eindruck von diesem Bauwerk und der überbordenden künstlerischen Kreativität auf seiner Westseite zu geben, fällt es unter den täglichen Hammerschlägen der Mauerspechte in sich zusammen. Eisendrähte ragen nach allen Seiten weg, die zerfurchte Betonlandschaft, von flinken Händen neu übermalt, hat Löcher wie der Schweizer Käse, nur nicht so rund.

Was war das — die Mauer? Wir müssen uns präparieren, unsere Kinder und Enkel werden uns fragen. Sie werden fragen, was es mit diesen vielen kleinen Betonsplittern auf sich hat, die so bunt angemalt sind wie Bonbons und die man überall kaufen kann; der Lehrer hatte neulich eines im Geschichsunterricht dabei, und eine Frage in der „Ex“ zielte darauf: „Was war das — die Mauer?“ Was soll man da sagen? Daß es eine „Realität“ gibt, die die Menschen jahrzehntelang als Realität nehmen und die dann plötzlich verschwindet wie ein flüchtiger Schein? Daß hunderttausend Menschen eines Tages im Jahr 1989 einmal kräftig gepustet haben — „Weiß du, wie wenn du ein paar Kerzen auf einmal ausbläst!“ — und dann einige Kilometer Beton in viele hunderttausend Fetzen zerstoben?

Was mich angeht, ich werde ein Bilderbuch aufbewahren, in dem die Bilder wiederzufinden sind, die ich auf ungezählten Spaziergängen an der Mauer angestaut habe. Sie sprechen Kinder am meisten an: Die ganze Palette der Farben, jeder Quadratzentimeter bedeckt, ein Endlosband der Bilder wie in den uralten Kirchen oder in den antiken Tempeln; die Expressivität, die comicähnlichen Figuren, die coolen Sprüche: „It's nice to be a Preiß, it's higher to be a Bayer.“

Wo aus Mauern Blumen wachsen, hat das Leben die Oberhand, stand über einem Hauseingang in Kreuzberg. Tausend Blumen wuchsen aus dieser Mauer, gepinselt von Menschenhand, „Culture Dreams“, wie es auf einem der Bilder hieß. Noch Ende 1989, Wochen nach dem 9.November, als die Ostberliner Künstler mit Pinsel und Palette anrückten, um sich in bescheidenem Maße der Ostseite der Mauer zu widmen, schritt deren Eigentümerin, die Nationale Volksarmee, unverzüglich ein und übertünchte die Träume mit Kalkweiß.

Es wäre jedoch unverantwortlich, demgegenüber die Westseite der Mauer nun in den schönsten Farben zu schildern. Der Raum, der sich da bot und der genutzt wurde, war der Raum einer ebenso fröhlichen wie verzweifelten Kreativität. Was diesseits der Mauer Niederschlag fand, war nicht nur die Anklage der Gesellschaftsform jenseits der Mauer — „communisme stop!“ —, das Bauwerk avancierte vielmehr zur Klagemauer der westlichen Gesellschaft: „Gott will cash.“ Zwei geflüchteten jungen Friedensaktivisten aus Weimar war dieser Spiegel des Westens, der die Mauer war, ein Dorn im Auge: Die Mauer müsse wieder als Mauer gesehen werden, als Schicksalsmauer für die DDR-Bürger. Sie gingen daran, mit einem einzigen dicken weißen Strich das Endlosband der Bilder und Sprüche auf voller Länge (166 km) durchzustreichen. Einige Kilometer hatten sie schon hinter sich, da öffnete sich in der Mauer, hinter einem Busch verborgen, ein Loch (gleich einem Sesam öffne sich; nach dem 9.November konnte man diese Vorrichtungen in Augenschein nehmen), und heran stürmten die Soldaten der NVA...

Es dauerte ein paar Monate, bis auch der weiße Balken wieder unter Farben versank, als Grundstruktur in neue Bildkonzeptionen einbezogen wurde oder als willkommene weiße Grundierung (wie Briefpapier) für wichtige persönliche Nachrichten genutzt wurde: „Late night with David Letterman“ oder so. Englisch war ja überhaupt die Verkehrssprache, aber auch alle anderen Sprachen waren zu finden. Die persönliche Existenz in das umfassende Schicksal einzuzeichnen, zu dem die steingewordene Grenze geworden war, hatte immensen Reiz: Claudia, Anja, Sonja, „Don John“, Jochen, Paul, Andy — sie alle suchten die Inschrift ihrer Existenz zu verewigen, die nun in abertausend Splittern in alle Welt zerstob. Die multikulturelle Gesellschaft formulierte ihr Design auf diesen Entwurfsbögen, die zur beständigen Performance geworden ist und in der die Punk-Kultur einen gewissen Stellenwert hat, wie sich an den beliebten und technisch immer perfekteren Spontan-Kunstwerken aus der Sprühdose zeigt.

So nähert man sich vielleicht jener Aussage, die Mitte der achtziger Jahre an der Ecke Leuschnerdamm/ Waldemarstraße auftauchte und behauptete, Mauerkunst sei „Lebenskunst“. Einem fröhlichen Punk stehen dabei die Haare zu Berge; er wirft unbeschriebene Blätter in den Wind, auf einem steht nur „Ciao!“, gezeichnet „by Jo“. Wie nahezu alle Kunst der Moderne begehrt die Kunst, die auf der Mauer zu finden ist, gegen die Absonderung in Museen und Galerien auf; es ist eine Kunst, die ins Leben zurückkehrt, genau an der Stelle, wo ein Riß die Welt durchzieht. Mauern gab und gibt es viele in der Welt — aber es mußte diese eine sein, die den neuralgischen Punkt schlechthin markierte; seither hat die Mauerkunst ihren Siegeszug überall abgetreten, um die Kunst aus den honorigen Stätten hinauszutragen, die für sie in der Gesellschaft reserviert worden waren. Die langgezogenen Wände der U- und S-Bahnen aller Städte, die nackten Wände der Tunnels und Unterführungen, die abwesend leeren und in dieser Leere einladenden Mauern der Fabriken und Montagehallen, die Betonfassaden der Hochhäuser, all das einfallslos einfarbig bemalte Mauerwerk der Häuser, in denen brave Bürger wohnen: Niemals gab es mehr zu tun für eine Kunst, die sich vom Leben nicht scheiden lassen will und wieder zur Lebenskunst wird. Von der Kunst, die ins Leben übergeht, träumten die Avantgarden dieses Jahrhunderts; der Wunsch, an dessen Erfüllung bereits die Romantiker arbeiteten, ist so alt wie das Projekt der Moderne und legt Zeugnis ab von dessen Grundstrukturen: Denn die Moderne ist eine Geschichte der Teilungen. Wenn die Mauerkunst Lebenskunst ist, überkreuzen sich an diesem einzigen Punkt zwei der markantesten Teilungen bzw. die Versuche zu ihrer Aufhebung. Die Teilung der Gesellschaftsformen; die Teilung von Kunst und Leben. „Die Mauer ist in unseren Köpfen“, hieß eine kurrente Sentenz.

Daß diese Mauerkunst, die Lebenskunst ist, nicht nur Dilettanten, sondern Könner kannte (um das abgenutzte Wort „Künstler“ nicht zu gebrauchen), bemerkt der Maler Hermann Waldenburg in dem von ihm herausgegebenen Band Berliner Mauerbilder. Er fotografierte die Bilder seit dem Winter 1984/85. „Wenn ich gewußt hätte, wie schnell sie wieder verschwinden würde, hätte ich ein Dutzend Filme mehr gemacht.“ Er registrierte Signaturen (wie: Fauxpas, Bouchet, Noir) und lernte Stile unterscheiden auf der Strecke zwischen Potsdamer- und Mariannenplatz. Die spontane Ehrlichkeit und persönliche Einzigartigkeit der zumeist anonymen Werke, so charakteristisch in Farbe und Form, begeisterte ihn. Buchstäblich über Nacht veränderte sich diese Landschaft; neue Bilder, manchmal flächendeckend über Hunderte von Metern, wurden geboren und verschwanden, selten nur war ein Maler bei der Arbeit zu sehen. In der Stille der Nacht am Ende der Welt, das war die Bedingung, die das Freiluftatelier bot. Wer erinnert sich schon daran, daß erst 100 Jahre früher die Impressionisten damit begonnen hatten, en plein air zu malen? Christophe Bouchet und Thierry Noir aktualisierten und politisierten nur diesen Ansatz, ein Protest gegen die Kunst, die abgeschieden im Atelier entsteht.

Daß viele Kunstrichtungen des 20.Jahrhunderts anklingen, stellt Waldenburg fest; daß Vorbilder jedoch nicht einfach kopiert oder gar reproduziert, sondern erfinderisch verarbeitet werden: „Ein heterogenes Amalgam — unbefangen, parteiergreifend, nicht nostalgisch wie die Neo-Strömungen der Museums- und Galeriekunst — brachte eine neue Volkskunst, eine neue Kunst hervor. War sie vielleicht das herausragende Kunstphänomen der 80er Jahre?“ — Angesichts des nackten Betons war es entweder die Wut oder die Lust am freien Raum, die bei Tausenden den Akt freisetzte, der die Kunst charakterisiert: der Akt der Transformation; sei es, um die Mauer, die nackte Realität, in schönen Schein zu verwandeln (denn „Phantasie kennt keine Grenzen“), sei es, um sich selbst angesichts des stummen Anderen einer Veränderung zu unterziehen und aus der Lethargie und Passivität herauszutreten, in die man durch die unerträgliche Leichtigkeit des Konsums im Westen gedrängt worden war. „Irgendwann fällt jede Mauer“, stand so treffsicher in riesigen roten Lettern über jenen Mauersegmenten, die am 23.November 1989 an der Nordseite des Brandenburger Tors herausgebrochen wurden.

Die höchste Blüte der Mauerkunst verzeichnet der Beobachter der Szene, Waldenburg, in den Jahren 1983 bis 1986: „Eine flächig plakative, ausdrucksstarke Öffentlichkeitskunst, die ihren Jahrhundertplatz erhalten wird.“ Die technische und stilistische Innovation dieser Zeit schreibt er den Graffitis aus der Sprühdose zu, die die Möglichkeiten dieser Kunst umrissen: Klare, bunte Farben, da ein direktes Mischen nicht möglich war; unscharfe, bewegte Linien oder auch Formen mit scharfen Ränden bei Benutzung von Klebestreifen. Die Sprühdose gekonnt zu führen, erfordert Übung. Darüberhinaus konnte jedoch mit jedem anderen Mittel gearbeitet werden, mit Farbe, die gestrichen oder gerollt wird, mit Filzstift, Kreide, Bleistift oder Lippenstift. Eine dirkte bildhauerische Auseinandersetzung mit den 36 qm Mauerfläche vor seinem Atelierfenster suchte der Bildhauer Peter Unsicker. 1986 eröffnete er in der Zimmerstraße zwischen Martin- Gropius-Bau und Checkpoint Charlie seine „Wall Street Gallery“. 1988 brachte er Spiegelsplitter an der Mauer an, in denen der Betrachter die Fragmente seiner selbst erkennt und die Mauer zersplittert erscheint.

Von der technischen Seite abgesehen, wenden sich die Bilder thematisch, wie es sich für eine Lebenskunst gehört, auch der Kunst der Erotik zu und variieren die Mauerkunst nach dieser Seite. Grellrote Brustwarzen stechen da an der Niederkirchnerstraße vor dem Martin-Gropius-Bau aus einem gelb gekleideten, blau gefärbten und schwarz umrissenen Leib hervor. Die Bestie fingert im After der Gestalt, auf der sie reitet und ihrerseits nicht etwa Fellatio mit dem übermächtigen Glied einer dritten, mickymouseähnlichen Figur treibt, sondern davon regelrecht selbst aufgefressen wird. Sie tragen Namen, Peny, Barbara und Tom, und stellen ihrem Treiben einen sinnfälligen spitzen Spruch voran: „Who the fuck is Peter Weiss?“ Das war 1983 und hielt sich bis zuletzt.

„Pirate Art“ nannte sich diese Stilrichtung, die die strotzenden Brüste und schwellenden Schenkel hartnäckig mit Peter Weiss assoziierte und steif und fest behauptete, Gott wolle cash. Auf anderen Bildern wiederum zielt ein schönes Fabelwesen in einer Traumlandschaft mit langen, hellblauem Pfeil direkt in ein pochendes, rotes Herz (signiert „C.Bouchet“); oder ein Weib mit stählern glänzenden Rundungen räkelt sich, ein Telefon neben dem klaffenden Geschlecht („Hunger Herr Pastor“); oder ein phantastisches rotes Wesen auf zwei Beinen zupft die Leier, bis die Noten nur so durch die Lüfte fliegen, aber die Angebetete wendet sich ab und will ihn nicht erhören („Noir“). Ein nacktes Traumpaar tanzt elegant mit gestreckten Armen und gespreizten Beinen haarscharf am Begriff „große Pute“ vorbei. Eine kraftstrotzende rotleibige Schönheit stemmt mühelos aus der Sitzposition eine blasse Gestalt hoch über den weißen Balken, den die schon erwähnten Aktivisten zogen. Auch Homosexuelle, deren knappe Slips sich beträchtlich ausbeulen, oder Gestalten mit „neutraler Identität“ tummeln sich. „Ajo, mon Schatze“, verkündete Nick 1989. „Mona + Alf“ reichen sich die Hände in der Manier der Strichmännchen, die man auf archaischen Höhlenzeichnungen findet und die in der Form von Felsabreibungen 1985 vom Neuen Berliner Kunstverein in der Ausstellung Elementarzeichen präsentiert worden waren. Prägnant und vieldeutig zugleich erscheint 1989 ein riesiges Auge mit der knallgelben Aufschrift auf schwarzem Grund „Jackie I love you“ — das „I“ aber ist ein Spalt in der Mauer, zugleich ein Spalt in der Pupille wie bei einer Katze; „I“ und „Eye“ sind homonym, die Wölbungen, die das Eye/I von Jackie aufweist, legen jedoch noch die Assoziation einer anderen Spalte nahe. Der Raum der Wölbung oder der Pupille, ganz wie man will, schillert in vielen Farben.

„Berlin wird mauerfrei“ verkündete ein riesiges aufgemaltes Schild schon 1988. Aber „Die Mauer muß bleiben“ forderte eine andere Inschrift, und nicht wenige wünschen sich ihre Mauer heute zurück. Man versteht nun, warum: Weil die Mauerkunst Lebenskunst ist. Und zwar noch in einem anderen Sinne als dem der Mauerkunst im engeren Sinne. Im Schatten der Mauer zu leben hieß, anders zu leben. Die Mauer ermöglichte die Ausbildung einer anderen Kultur und forderte die Distanz zu der Gesellschaft, die reibungslos funktionierte und lärmend ihren Geschäften nachging. Im Schatten der Mauer zu leben, hieß, auf einer exotischen Insel zu leben, am Ende der Welt. Das Kleinklima, das die bloße Nähe der Mauer schuf: Ein Ort der sagenhaften Stille und des Schweigens wie sonst nur die Bergseen, der Zeit und aller Eile entrückt.

In Kreuzberg wurde kein Konflikt versteckt; da hat es aus heiterem Himmel in der Kneipe nebenan gekracht, daß die ganze Straße von Geschrei und Geheule widerhallte. Möbel Olfe mußte eine Zeitlang beinahe täglich die Schaufenster erneuern — bis er der Einfachheit halber die Fenster mit Brettern vernagelte. In der U-Bahn spielten die Mädchen mit einer weißen Maus, bis die älteren Frauen hysterisch ihre Plätze räumten. Die Oma vom Nachbarhaus wiederum grüßte schon morgens um Sieben den Kater Mikusch: „Na, haste gut geschlafen?“ Tagsüber kamen die Türkenkinder in die Ladenwohnung, um zu spielen. Was wird nun aus Kreuzberg werden, diesem Biotop für Experimente des Lebens und des Zusammenlebens? — Die Wohnungen dicht an der Mauer, im Abseits der Gesellschaft, finden sich nun in der City wieder. Aber auch die Gesellschaft ist ja nicht dieselbe geblieben.

Die Lebenskunst, die sich im Schatten der Mauer entfalten konnte, war keineswegs nur ein Rückzug in die Privatheit, sondern ein Faktor der Politik, wenn man unter Politik nicht nur das versteht, was hohe Herren hinter verschlossenen Türen verhandeln, sondern das, was das Leben und seine Ausgestaltung in der Polis betrifft. Kreuzberg war eine Polis und verstand sich auch so. Mit einer Politik der Lebenskunst kann die Mauer jedoch noch in einem weiteren Sinne verknüpft werden: Es begann mit der literarischen Gestalt des „Mauerspringers“ von Peter Schneider, der in Erinnerung brachte, daß Grenzen dazu da seien, überschritten zu werden. Gewiß, das war „nur“ eine Fiktion, aber schon damals wurde ich den Verdacht nicht los, der entscheidende Schritt sei damit bereits getan. Fiktion und Realität liegen weniger weit auseinander, als wir wünschen oder befürchten. Der Mauerspringer war ein Riß in jenem Diskurs, der sich an der scheinbar unüberwindlichen Betonwand festgefahren hatte. Mit Leichtigkeit sprang da einer drüber, immer wieder. Es dauerte nur einige Jahre, dann zog die Wirklichkeit nach. Nein, es war noch nicht der 9.November 1989, sondern die Auseinandersetzung um das Lenné-Dreieck, das, unmittelbar an der Mauer gelegen, dem Straßenbau zum Opfer fallen sollte. Hunderte von Bürgern wollten das ökologisch wertvolle Grundstück erhalten und besetzten es kurzerhand. Vor der anrückenden Staatsmacht genügte zunächst der taktische Rückzug, wie so häufig bei Berliner Demonstrationen, auf den meterbreiten Streifen vor der Mauer, der bereits DDR-Staatsgebiet war. Die Herren in Grün bauten sich korrekt an der Staatsgrenze auf, um einerseits keine Völkerrechtsverletzung zu begehen, andererseits aber die Demonstranten, wie einst im Mittelalter die stolzen Burgen, auszuhungern. Die aber entsannen sich des Mauerspringers und hüpften behende zu Hunderten auf die andere Seite. Der Bann war gebrochen, allen war es klar.

Es war daher keine große Frage, was am Abend des 9.November entstand, nachdem die erste Schrecksekunde (sie dauerte ein gute Stunde) verstrichen war. Schabowski, wer war Schabowski, hatte als SED-Politbüromitlied die Öffnung der Mauer verkündet. Auf westlicher Seite fühlten sich sofort einige hundert angesprochen, die Durchlässigkeit auch von der anderen Seite her zu erproben. Man wußte nun schon, wie's geht, und so kam es zu den Bildern vom Brandenburger Tor, die um die Welt gingen. Man sieht darauf nur nicht, wie angespannt die Situation zunächst war, denn auf der anderen Seite wartete eine Hundertschaft der NVA. Als aber die ersten Menschen von der Mauer tropften, nachdem der militärische Wasserwerfer an der Widerstandsfähigkeit eines einzigen gescheitert war, wichen die Soldaten zurück. So war der Weg dann auch in der Gegenrichtung frei. Die letzten Steine, die da noch im Weg standen, räumen die Bagger nun weg.