: Die Ostsee: Klärbecken der Anrainerstaaten
■ Der Kieler Umweltminister Berndt Heydemann zu dem sterbenden Meer DOKUMENTATION
taz: Wie beurteilen sie den aktuellen Zustand der Ostsee?
Berndt Heydemann: Die Ostsee hat als Brackwasser eine ungewöhnlich niedrige Regenerationskraft. Sie ist weniger regenerationsfähig als ein normales Meer oder ein Süßwassermeer. Die Ostsee hat zweitens eine relativ geringe Wasserbewegung. Vor allen Dingen weil sie nicht tidebeeinflußt ist. Sie hat außerdem eine ungewöhnlich unebene Grundlage mit sehr tiefen Einschnitten auf ihrem Boden. Dies alles bewirkt, daß sich die Substanzen im Bodenbereich sammeln und der Austauschprozeß zur Nordsee so gering ist, daß höchstens alle 50 bis 60 Jahre die Wassermassen ausgetauscht werden.
Die Sanierung kostet Milliarden
Schon 1974 und später in der Helsinki-Konferenz haben wir uns vorgenommen, 50 Prozent weniger Schadstoffe einzuleiten. Auch wenn dies erfolgt wäre, wäre jedes Jahr noch die Hälfte der Schadstoffe hinzugekommen. Nur der Zuwachs an Schaden sollte vermindert werden. Selbst bei dieser Beschlußfassung, die noch nicht umgesetzt worden ist. So ändert man nichts. Wir müssen mit rigorosen Maßnahmen arbeiten, und das gilt nicht nur für Finnland, die Sowjetunion und Polen, sondern auch für Schweden, Dänemark und Deutschland.
Welche Maßnahmen fehlen zum Beispiel an der deutschen Ostseeküste?
Beispiel DDR: Dort haben Städte wie Stralsund, Greifswald, Wismar, Rostock keine vernünftig funktionierenden Klärwerke. Diese Städte leiten in so großem Umfang Abwasser in die Ostsee ein, daß nur mit einem Kostenaufwand von 500 bis 600 Millionen Mark eine Besserung erzielt werden könnte. Dasselbe gilt für die Städte in Polen, am finnischen Meerbusen und an der russischen Ostseeküste. Das kostet Milliarden. Die Anliegerstaaten müssen sich erst einmal einigen, wer für was bezahlt. Das geschieht nicht. Bei der Konferenz in Ronneby hätten die Delegationen eine fertige Planung mitbringen müssen, die von der Ministerpräsidentenkonferenz hätte verabschiedet werden müssen.
Wie ist gegenwärtig der Zustand von Flora und Fauna in der Ostsee?
Etwa ein Drittel des Ostseebodens ist nur noch wenig oder gar nicht mehr belebt. Das ist in der westlichen Ostsee in Bereichen der Fall, die nur 14 bis 20 Meter unter der Wasseroberfläche liegen. Ein toter Boden ist in der Regel nicht mehr von Großpflanzen bewachsen. Auch Großfauna lebt dort nicht mehr. Nur unter Sauerstoffmangel arbeitende Kleinorganismen, also Bakterien und Pilze, können die Umsetzungsarbeit noch machen. Eines Tages sterben auch diese.
Das Problem ist aber nicht nur der Sauerstoffmangel, sondern auch die Schwefelwasserstoffzunahme. In diesen Zonen um die 20 Meter unter der Meeresoberfläche entwickeln sich 90 Prozent aller Lebewesen. Im Boden reichern sich die Schadstoffe im Verhältnis zum Wasser um das 1.000- bis 100.000fache an. Und die Lebewesen in diesem Boden akkumulieren diese Schadstoffe in der Regel noch einmal um eine 10er-Potenz. Das bedeutet, daß die Lebewesen auf dem Boden des Meeres Schwermetalle, chlorierte Kohlenwasserstoffe, PCB's um einen Faktor ein bis zehn Millionen anreichern. So sind in der Ostsee die Seehunde zum größten Teil unfruchtbar geworden. Man spricht darüber nicht mehr, weil ihr Sterben in der Ostsee zehn bis 20 Jahre vor dem der Seehunde in der Nordsee einsetzte.
Die Ostsee ist dramatisch viel schlechter dran als die Nordsee, und die ist wiederum dramatisch viel schlechter dran als der atlantische Ozean. Die Ostsee muß also zuerst vor jedem weiteren Schadenszuwachs bewahrt werden. Selbst dann wird es etwa 100 Jahre dauern, bis die Selbstregenerationskräfte greifen.
Es wird hundert Jahre dauern, bis die Ostsee sich regenerieren kann
Welche Veränderungen hat es neben dem Seehundsterben in den letzten 20 Jahren gegeben?
Zurückgegangen sind die großen Algen, die eine Verschmutzung nicht vertragen. Das ständige Herunterrieseln von Sedimenten verstopft die Oberfläche und führt zum Absterben der Seegräser. In dem gesamten flachen Bereich der Küste setzt dieses Sterben in zunehmendem Maße ein und führt zu einer Umschichtung des Algenbewuchses. In kurzer Zeit haben unempfindlichere Mikroaalgen im Übermaß zugenommen. Wenn diese Algen absterben — sechs Millionen Zellen pro Liter Wasser — kommt es zu einer dramtischen Sauerstoffauszehrung. Das führt zu einem vermehrten Absterben der Lebensgemeinschaften, die allmählich ins totale Ungleichgewicht geraten.
Eignet sich die Ostsee noch für den Fischfang?
Der Fischfang ist drastisch zurückgegangen. Einerseits wurde die Ostsee überfischt. Andererseits sind die großen Seegras- und Algenbestände verloren gegangen, die für das Ablaichen der Fische notwendig sind. Fische reichern aber auch Schadstoffe in so hohem Maße an, daß sie als Nahrungsmittel in die Problemzone gelangen. So sind im Frühjahr 1990 dioxinhaltige Heringe vor Bornholm gefangen worden.
Dioxinhaltige Heringe vor Bornholm
Inwieweit sind durch die sterbende Ostsee die Nordsee und der Atlantik auch bedroht?
Die meisten Menschen haben diesen ökologischen Zusammenhang nicht im Auge. Nur dadurch kann es kommen, daß man sich immer wieder Hoffnung macht, mit kleinen Maßnahmen große Effekte zu erzielen. Aber ein Teil der Schadstoffe geht aus dem Klärbecken Ostsee in die Nordsee. Die fungiert dann als Schönungsteich. Und was die Nordsee nicht mehr schafft, das geht in den Atlantik und senkt sich dort in 4.000 Meter Tiefe ab. Dort zerstört man eines Tages, und das ist jetzt schon in vielen Bereichen der Fall, die ozeanischen Tiefen. Das Ganze gehorcht dem Prinzip: Was ich nicht sehe, interessiert mich nicht. Damit schadet man den Lebensräumen, die den größten Teil der Erdoberfläche abdecken und die für das Entstehen des Lebens und für dessen Fortbestand entscheidend sind.
Ich bin der Meinung, daß in den nächsten zehn bis 15 Jahren eine ähnliche Entwicklung eintritt, wie heute beim tropischen Regenwald. Die Existenz großer Teile der Erde wird abhängig werden vom Funktionieren der Ozeane. Viele Nahrungsreserven kommen aus diesem Bereich, auch ein großer Teil der genetischen Vielfalt ist im Meer zu Hause.
Der Wasserhaushalt ist weltweit ein brennendes Problem. Wann wird in Schleswig-Hostein unter Ihnen als Umweltminister endlich das erste gläserne Wasserbuch für alle Schadstoff-Einleitungen in die Gewässer geschaffen?
Das neue Landeswassergesetz, das ich gerade gegen viel Widerstand durchzusetzen versuche, wird im Rahmen aller Rechtsmöglichkeiten dieses gläserne Wasserbuch haben. Ich hoffe, daß es Anfang 1991 in Kraft treten kann. Interview: Ortwin Reich-Dultz
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