Arm wie eine Kirchenmaus

Seit dem 1. Juli steigt die Zahl derer, die aus der Kirche austreten/Neuregelung der Kirchensteuer ist ein Beweggrund/ Mit der christlichen Zahlungsmoral stand es in der heutigen DDR auch vor der Währungsunion nicht gerade zum besten  ■ Von Peter Tomuscheit

In der DDR gehörte vor der Wende ein gewisser Mut zum christlichen Bekenntnis. Dennoch waren in Berlin- Brandenburg im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte aller Einwohner Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche. Doch damit ist es jetzt vorbei. Was der verordnete Atheismus des SED-Staates in vierzig Jahren nicht schaffte, das erreichen jetzt Währungsunion und Wiedervereinigung: Die DDR-Bürger verlassen die Kirche.

Beispiel Berlin-Mitte: Im Standesamt am Alex kann sich die zuständige Leiterin, Frau Neugebauer, über einen Mangel an Arbeit nicht beklagen: „Wir haben sehr, sehr viele Kirchenaustritte zur Zeit. Kamen sonst nur zwei, drei pro Jahr, kommen jetzt schon vierzig pro Tag zusammen.“ In anderen Berliner Stadtbezirken wie Hohenschönhausen sind es manchmal doppelt soviele, andernorts sieht es ähnlich aus.

Bereits seit dem 1.Juli steigt die Zahl der Austrittswilligen. Eine Austrittslawine brachte die Presse vor ein paar Wochen ins Rollen, die über die Neuregelung der Kirchensteuer berichtete. So werden ab Januar 1991 — wie in der Bundesrepublik — die Betriebe die Kirchensteuer automatisch abführen; und seitdem das bekannt wurde, wird auch in Sachen Religion nüchtern gerechnet, selbst wenn das natürlich nicht immer sofort zugegeben wird.

Diejenigen, die vor dem Standesamt Mitte Auskunft erteilen, bestätigen erst auf Nachfrage, daß letztlich die Kirchernsteuer Beweggrund war, der Kirche den Rücken zu kehren. Jetzt müsse man eben mit jeder Mark rechnen, meint ein älterer Mann, der gerade aus der Kirche ausgetreten ist. In seinem Betrieb werde das auch alles heftig diskutiert. Siebzig Prozent seiner Kollegen wollen austreten, schätzt er.

Eine Kirchensteuer gab es auch bisher in der DDR, eingezogen wurde sie allerdings schon seit 1952 nicht mehr von den Finanzämtern, sondern durch kircheneigene Stellen. Eine rechtliche Handhabe besaß die Kirche jedoch nicht, und mit der christlichen Zahlungsmoral stand es nicht zum besten. 1989 beispielsweise gab es in Berlin-Brandenburg 450.000 freiwillige Kirchgeldzahlungen, eigentlich aber hätten es doppelt so viele sein müssen.

Obwohl also schon bisher um jede Mark gerungen werden mußte, rechnet man beim Konsistorium der evangelischen Kirche in Ost-Berlin mit einer weiteren Verschlechterung der Finanzsituation. Schon durch die Währungsumstellung haben sich die kirchlichen Rücklagen und die laufenden Einnahmen für 1990 um die Hälfte reduziert.

Die Kirchenaustritte und die geplante — in der Kirche nicht unumstrittene — Umstellung auf das westdeutsche Steuersystem wird weitere Einschnitte mit sich bringen. Vor allem das Gehaltsniveau im Osten ist niedriger, also werden auch die Kirchensteuer-Einnahmen geringer sein: Wer beispielsweise bisher freiwillig 260 Mark jährlich zahlte, dem werden für 1991 vom Betrieb nur noch 80 D-Mark abgezogen. Hinzu kommen weitere hohe Einnahme- Ausfälle durch die erwartete Arbeitslosigkeit.

Die Konsequenzen des kirchlichen Finanzdesasters sind einschneidend: Die Kirche hat sich schließlich in der alten DDR um eine Reihe von Problemen gekümmert, die es offiziell gar nicht geben durfte. Und daran hat sich — auch aufgrund des Fachkräfte-Mangels auf staatlicher Seite — wenig geändert.

Im Gegenteil: Die Aufgaben nehmen zu, wie die zuständige Finanzdezernentin Carola Palt weiß: „Es werden zusätzliche Anforderungen an uns herangetragen, die wir kaum in unser Programm werden aufnehmen können, weil wir mit dem bisherigen erstmal zu Rande kommen müssen. Das ist zum Beispiel die ganze Ausländerarbeit — vor allem das Problem der in unser Land strömenden Sinti und Roma. Weitere Aufgabenbereiche, die vom Staat nicht bewältigt werden, sind die Arbeit mit Jugendlichen, die sozial- und verhaltensgestört sind, mit Suchtgefährdeten, sowie die Begleitung von Arbeitslosen.“

Doch schon jetzt können einige kirchliche Einrichtungen ohne Finanzierung durch die Glaubensbrüder und -schwestern im Westen nicht mehr aufrechterhalten werden. Gerät die DDR-Kirche also ab 1991 unter die Räder der Marktwirtschaft? Schon jetzt jedenfalls gibt es in der DDR auch einen freien Markt der Glaubensrichtungen und auf dem wird sich die etablierte Kirche behaupten müssen.

Vor dem Standesamt in Berlin Mitte beispielsweise stehen zwei Männer von der Sektenkonkurrenz, und die werben auf ihre Art um die Kundschaft. Mit lauter Stimme verkünden sie die Lösung aller Probleme: „Es gibt nur einen, der hilft gegen Drogensucht, Arbeitslosigkeit und Pornografie: Jesus ist die Antwort.“