Euro-Abgeordnete wollen Einungsdrang nicht behindern

Straßburg (taz) — Oman grüßt dieser Tage das Abendland. Im Europa- Tempel zu Straßburg geben Scheichs in königlichen Roben Interviews. Verschleierte Tänzerinnen aus 1001 Nacht verteilen zu arabischen Klängen Prospekte über die Vorzüge des kleinen Golfstaates an Besuchergruppen.

Sichtlich beschwingt ziehen auch zehn Abgeordnete aus der DDR- Volkskammer durch die Eingangshalle des Europäischen Parlaments (EP). Sie sind gekommenen, um einem historischen Ereignis beizuwohnen: der Selbstentmachtung des Europaparlaments.

Anlaß zu dieser ungewöhnlichen Maßnahme, die Dienstag und Donnerstag in zwei Lesungen durchgepeitscht wird: Die Euro-Abgeordneten wollen dem Einungsdrang der beiden Deutschlands nicht im Wege stehen.

Wegen der erneuten Beschleunigung des Anschlußverfahrens sehen sie sich gezwungen, die EG-Kommission in Brüssel dazu zu ermächtigen, für eine Übergangsfrist von knapp zwei Monaten zwischen dem 3.Oktober und Ende November die von der EG-Behörde vorgeschlagenen Regelungen für die Integration der DDR in die EG anzuwenden. Heute trifft sich außerdem der EG- Ministerrat in Brüssel zu einer Sondersitzung, um sein Votum abzugeben.

Diese bislang einmalige legislative Prozedur war nötig geworden, weil die beiden entscheidenden EG- Gremien — Ministerrat und EP — von dem Einigungstempo überrascht wurden. Sie werden voraussichtlich erst Ende November ihren Entscheidungsprozeß abschließen können. „Um aber zu verhindern, daß die DDR nach dem 3. Oktober vor die unmögliche Situation gestellt wird, alle EG-Gesetze voll anwenden zu müssen“, plädierte EP-Präsident Enriquo Baron für die Sonderermächtigung, um die von der EG-Kommission vorgeschlagenen Anpassungs-, Übergangs- und Ausnahmeregeln im Vorgriff auf die für Ende November erwartete Entscheidung des Europaparlaments in Kraft zu setzen. Schließlich werden mit der Vereinigung die EG-Verträge (Primärrecht) und alle von den EG-Gremien gefaßten Beschlüsse (abgeleitetes Recht) automatisch auch für das Gebiet der DDR gelten.

Einzig die Grünen im Europaparlament stimmten gegen die Ermächtigung. Es sei ein Skandal, daß das EP just zu einer Zeit, in der es um größere Beteiligungsrechte am EG-Entscheidungsprozeß kämpft, sich freiwillig entmachtet.

Wohin dies führe, betonte die Rednerin der grünen Fraktion, Birgit Cramon-Daiber, zeigen die Übergangsfristen für die Anpassung des industriellen Umweltschutzes. Für die kritischen Bereich — Wasser, Luft und Abfälle — sind Fristen bis 1995/96 vorgesehen. „Dies ist zu lang.“ Die DDR-Volkskammervertreter lauschten der Auseinandersetzung auf den Besucherbänken. Da die 1989 gewählten 81 bundesdeutschen Europa-Abgeordneten ihr Mandat nicht freiwillig zur Verfügung stellen, werden die 17 Millionen Ostdeutschen bis zur nächsten Wahl 1994 im Euro-Volkstempel nicht vertreten sein. Selbst ein Beobachterstatus ist völlig ungewiß. Michael Bullard