Sie haben niemals Schuld

■ Strohhalm e.V. will Kinder vor sexuellem Mißbrauch schützen/Rollenspiele sollen die Kinder motivieren, sich aktiv zur Wehr zu setzen/ Der Senat unterstützt zwar das Projekt, zahlt aber nicht

West-Berlin. Wenn die Frauen von Strohhalm e.V. im Rahmen ihrer Workshops für und mit Kindern Rollenspiele proben, sind die 7-12jährigen Mädchen und Jungen lebhaft bei der Sache. Dennoch hat das Spiel einen ernsten Hintergrund: Die Kinder, so der Anspruch der insgesamt sieben im Verein tätigen Frauen, sollen lernen, sich gegen sexuellen Mißbrauch zu wehren. Denn Tausende von Kindern werden jährlich in der Bundesrepublik sexuell mißbraucht, viele dieser Fälle kommen niemals ans Tageslicht. Fast immer sind die Täter Männer, die Opfer meist Mädchen im Alter zwischen 6 und 10 Jahren.

Genau an diese Altersgruppe, aber bewußt an Mädchen und Jungen, wendet sich der Workshop mit Rollenspielen, in denen »Kinder mit Gewalt konfrontiert und in ihren Rechten beschnitten werden«, wie Dagmar Riedel-Breidenstein erläutert. An das sensible Thema »sexueller Mißbrauch« werden die Kinder vorsichtig herangeführt, die Frauen greifen erst einmal ein Thema auf, was jedes Kind aus seinem Alltag kennt: Ein jüngeres Kind wird von einem Älteren erpreßt. Beim zweiten Spiel geht es um die Bedrohung durch einen fremden Erwachsenen, erst die dritte Szene stellt sexuelle Belästigung durch einen Verwandten dar: Die kleine Eva, der der Lieblingsonkel Harald durch das Versprechen eines Geschenks einen Kuß abringt, nachdem er schon vorher mit ihrer Hand seinen Oberschenkel getätschelt hat.

»Bei diesem Spiel sind alle ganz aufmerksam«, erzählt die Ärztin Eva von Davier. Ziel sei es immer, den Kindern klar zu machen, daß sie an solchen Situationen keinerlei Schuld tragen, daß sie sich zur Wehr setzen können und vor allem mit einem Menschen ihres Vertrauens darüber sprechen können. Daß die Suche nach Hilfe nicht das Gleiche ist wie das überall verpönte »Petzen«. Deshalb wird die Hauptrolle in der letzten Szene auch von der jeweiligen Lehrerin der Kinder gespielt, die dort unter Beweis stellt, daß sie den Kindern glaubt. Sämtliche Rollenspiele werden direkt im Anschluß besprochen und entsprechend der gefundenen Lösungsmöglichkeiten gemeinsam mit den Kindern wiederholt.

Gegründet wurde Strohhalm e. V. Vor zwei Jahren. Als Vorbild dient das amerikanische Modell CAPP (Child Assault Praevention Project), das in amerikanischen Schulen bereits seit Jahren weit verbreitet ist. Mehr als ein Workshop pro Monat ist für Strohhalm e. V. jedoch nicht machbar, der Aufwand beträchtlich: Die Frauen treffen sich mit der jeweiligen Lehrerin der Klasse, die bereit sein muß, das Thema auch nach dem Workshop weiter mit den Kindern zu bearbeiten. Eine gemeinsame Fortbildung und ein ausführlicher Elternabend runden die Vorbereitungen ab. Um zu verhindern, daß möglicherweise betroffene Eltern ihre Kinder an diesem Tag nicht in die Schule schicken, wird der genaue Termin des Workshops nicht bekannt gegeben. Nach den Rollenspielen sind die Frauen noch als Gesprächspartnerinnen für die Kinder da, mit der Lehrerin wird der Workshop einige Wochen später noch einmal nachbereitet.

Nicht nur aufgrund der zeitaufwendigen Vor- und Nachbereitungen kann der Verein die Anfragen kaum bewältigen: Alle sieben Frauen von Strohhalm sind berufstätig, die Arbeit im Verein wird vom Senat nicht gefördert. Trotzdem die Senatsverwaltung für Jugend den Verein fachlich voll unterstützt, wurde ihr Antrag auf jährlichen Zuschuß in Höhe von 350.000 DM nicht bewilligt. Bei der nächsten Frauenausschußsitzung am 19.9. aber soll die Finanzierung des Vereins erneut Thema sein. maz