So ähnlich wie ein Ast dem Baum

■ Fraktale ahmen Selbstähnlichkeiten der Natur nach/ Computerspezis entwerfen damit perfekte natürliche Landschaftsbilder

„a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat“. Generationen von SchülerInnen wurde das (Schul-)Leben mit Pythagoras und der euklidischen Geometrie verleidet. Geraden, Ebenen, Dreiecke, Kreise, Kegel wurden und werden gepaukt, weil nicht nur die LehrerInnen behaupten, die Natur sei aus diesen Bausteinen zusammengesetzt.

Obwohl Albert Einstein bereits mit seiner Relativitätstheorie die Pfade der euklidischen Geometrie verließ, galt sie bis vor wenigen Jahren als die geeignete Sprache, äußere Formen der Dinge zu beschreiben. Dabei kennt die Natur gar keine Formen wie Geraden oder Ebenen.

Wolken sind keine Kreise, Berge keine Kegel, und Rinde ist nicht glatt... Also Grund genug, nach einer neuen Sprache zum Beschreiben der Natur zu suchen. Das Ergebnis: die fraktale Geometrie.

„Wie lang ist die Küste von Großbritannien?“ ist der Titel eines wissenschaftlichen Artikels, den Benoit Mandelbrot 1967 veröffentlichte. Die Antwort des französisch-polnischen Mathematikers, der heute in den USA beim Computerkonzern IBM arbeitet, auf diese Frage lautet: Das kommt auf den Maßstab an. Auf jedem feineren Küstenausschnitt werden immer neue Buchten und Vorsprünge sichtbar, deren Kanten zur Länge addiert werden müssen. Die Länge wächst bei schrumpfendem Maßstab im Prinzip gegen unendlich.

Sollen diese Küstenlinien einer Größe zugeordnet werden, gelingt das nicht mit der euklidischen Geometrie. Die Linien sind zu groß für eine eindimensionale Länge und zu klein für eine zweidimensionale Fläche.

Darin unterscheiden sie sich wesentlich von euklidischen Figuren: Gerade Strecken haben die Dimensionen eins und eine (endliche) Länge, Vielecke und Kreise die Dimension zwei und eine Fläche, Kugeln und Kegel die Dimension drei und einen Inhalt. Großbritanniens Küste dagegen ist nicht mehr ein-, aber noch nicht zweidimensional. Für MathematikerInnen also Grund genug, noch Dimensionen zwischen eins und zwei, etwa 1,26, einzuführen. Dabei drückt die Dimensionszahl aus, wie schnell ihre Länge bei kleiner werdendem Maßstab gegen unendlich wächst. Für Mengen, die eine gebrochene Zahl als Dimension haben, prägte Mandelbrot 1975 den Namen Fraktale (von fractus: lateinisch für gebrochen).

Der Begriff „gebrochene Dimension“ und Beispiele für derartige Mengen sind in der Mathematik schon seit Anfang des Jahrhunderts bekannt.

Mandelbrot beharrte jedoch als erster darauf, Fraktale zum Beschreiben der Natur zu verwenden. Mit der euklidischen Geometrie lassen sich nur Modelle von künstlich Geschaffenem erstellen. Während euklidische Figuren durch algebraische Formeln definiert werden, lassen Fraktale eine solche Beschreibung nicht zu. Um eine fraktale Kurve zu konstruieren, wird heute wie vor 80 Jahren rekursiv vorgegangen. Eine einfache Figur, etwa eine gerade Strecke, wird nach einer simplen Vorschrift verändert. Dann wird das Ergebnis nach derselben Regel manipuliert. Mit diesem Resultat wiederum wird genauso verfahren und so weiter.

Bei der seit 1904 bekannten Schneeflockenkurve zum Beispiel läßt sich das mittlere Drittel einer geraden Strecke durch einen Zacken (siehe Bild) austauschen. Im nächsten Schritt wird jede gerade Strecke des so erhaltenen Gebildes durch einen Zacken ersetzt. Wird dieses Verfahren unendlich oft wiederholt, ergibt sich eine Kurve, die ihren Namen voll rechtfertigt.

Wird ein beliebiger Ausschnitt der Schneeflockenkurve vergrößert, entsteht das ursprüngliche Gebilde. Diese sogenannte Selbstähnlichkeit ist eine wesentliche Eigenschaft fraktaler Mengen, die Mandelbrot bereits in seiner Arbeit über Englands Küstenlinie untersuchte. Auf Kartenausschnitten sehen Küsten immer ähnlich aus, egal welcher Maßstab zugrunde liegt.

Das Prinzip der Selbstähnlichkeit taucht überall in der Natur auf. Ein Ast ähnelt dem ganzen Baum, ein Zweig dem Ast, die Adern im Blatt dem Zweig. Berge haben Ähnlichkeit mit Felsen. Felsen mit Steinen, Steine mit Sandkörnern. Planeten kreisen um die Sonne wie Elektronen um den Atomkern.

Die schrittweise, rekursive Konstruktion von Fraktalen ist von Hand zwar sehr mühselig durchzuführen, aber für Computer kein Problem. Im Gegenteil, die Stärke elektronischer Rechenanlagen liegt gerade darin, relativ einfache Anweisungen in kurzer Zeit unheimlich oft auszuführen. Erst mit ihrer Entwicklung wurde es möglich, die chaotische Welt der Fraktale anschaulich zu machen.

Computerfachleute und MathematikerInnen entwerfen fraktale Berge und Täler, Flüsse und Seen, Bäume und Büsche, sogar fraktale Planeten. Inzwischen gibt es Computerbilder, die von wirklichen Landschaftsaufnahmen nicht mehr zu unterscheiden sind.

Nicht nur in den Naturwissenschaften treffen Fraktale auf reges Interesse. Spätestens seit der Veröffentlichung der berühmtesten fraktalen Menge, dem Apfelmännchen, auch Mandelbrot-Menge genannt, hat die darstellende Kunst diese faszinierenden, bizarren Bilder entdeckt. Der Science-fiction-Autor Herbert W.Franke glaubt sogar, daß sämtliche Gemäde und Zeichnungen der 80er Jahre in 50 bis 100 Jahren in Vergessenheit geraten sind — mit Ausnahme der Computerbilder à la Mandelbrot.

Und auch Hollywoods Filmproduzenten haben Lunte gerochen. In Star Trek II sind an mehreren Stellen fraktale Landschaften zu bewundern. Wolfang Blum