Bernauer Straße, arm und reich

■ Nachtrag zur Bundestagsdebatte über den Einigungsvertrag KOMMENTARE

Graf Lambsdorff gehört in diesen ach so großen Zeiten zu den wenigen Bonner Politikern, die sich wenigstens um einen klaren Blick und — in Grenzen natürlich auch — um Klartext bemühen. In seiner Bundestags-Rede zur ersten Lesung des Einheitvertrages in der letzten Woche hat er mehrfach einen Satz wiederholt und gewissermaßen als Formel angeboten, um die Verpflichtung der gesamtdeutschen Politik angesichts des ökonomische Notstands in der DDR auf einen einfachen Nenner zu bringen. Er sagte mit dem Ton von Selbstverständlichkeit, „es kann nicht sein, daß es im geeinten Deutschland einen armen Teil und einen reichen Teil der Bernauer Straße gibt“. Offensichtlich glaubte der Graf an diesen Satz. Noch offensichtlicher ist, daß ein solcher Satz auch die meisten Bundesbürger immer noch ganz unmittelbar überzeugt. Es kann sich eben niemand vorstellen, daß es von der Hausnummer abhängen kann, ob man auf der armen oder auf der reichen Seite Deutschlands lebt. In den vierzig Jahren Bundesrepublik, die nun zu Ende gehen, ist der Sozialstaat zum Grundkonsens und zum konstitutiven Element der Alltagskultur geworden. Natürlich produzierte die bundesrepublikanische Gesellschaft auf ihre Art Ränder der Armut. Aber dennoch war Armut nie nur individuelles Schicksal, nie nur Produkt der gesellschaftlichen Naturgesetze, sondern immer auch ein Problem des Staates. Von Links bis Rechts gab es den unausgesprochenen Konsens, daß der Staat die Aufgabe hat, die Schroffheit der Armut abzuwenden, die Folgen zu kompensieren und soziale Widersprüche zu entschärfen. Die Begriffe, die Sprache dieses Konsenses gibt es noch, der Konsens selbst aber ist dabei, ohne Spuren zu verschwinden.

Es kann nicht nur sein, es wird so sein und es ist schon so: Es gibt einen armen und einen reichen Teil der Bernauer Straße, jene Straße, die in Berlin den Wedding im Westen mit dem Prenzlauer Berg im Osten verbindet. Es wird in Berlin so sein: Denn aus den beiden Stadthälften entsteht — zum ersten Mal in Deutschland — eine Metropole. Sie wird, wie alle Metropolen der westlichen Welt, eben mit jenen schroffen sozialen Gegensätzen auf engstem Raum leben müssen. Die Humanität wird nicht mehr automatisch vom Sozialstaat subventioniert werden. Und das wird nicht nur in Berlin, sondern auch im vereinten Deutschland so sein. Zwar werden die Defizite der Renten-, der Sozial-, der Arbeitslosenversicherung vom Westen finanziert werden. Es werden auch bestimmte Prozentsätze der kommunalen Defizite ausgeglichen. Aber die wirtschaftliche Lage der DDR und die Bestimmungen der Staatsverträge sind so, daß sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnen wird. Es wird in der Bundesrepublik immer noch so getan, als ob der Zusammenbruch des Wirtschaftskreislaufs, der Sanierungsfall der gesamten Industrie und der Infrastruktur nur die Erblast des Realsozialismus sei. Aber die Misere jetzt wird nicht mit dem Verweis auf die Vergangenheit geringer. In ihr entwickeln sich vielmehr die konstitutiven Bedingungen von Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft. Und die bundesrepublikanische Realpolitik hat längst schon darauf geantwortet: Die Westländer beipielsweise haben sich in geradezu unkeuscher Hast beeilt, die Abstimmungsmehrheit gegenüber den neuen Ostländern zu sichern. Überall spürt man, wie die Parteien der Bundesrepublik, die Länder und Kommunen an einem cordon sanitaire gegen die Ansteckung der Armut arbeiten. Für die Bundesländer war es jedenfalls kein moralisches Problem mehr, daß es einen armen und einen reichen Teil der Bernauer Straße gibt. Sie gingen vielmehr davon aus. Dieser Satz von Lambsdorff ist in Wahrheit ein indirekter Nachruf auf die Bundesrepublik. Klaus Hartung