Abrechnung mit dem Septemberregime?

Genau zehn Jahre nach dem Militärputsch in der Türkei, sind die Machtstrukturen unverändert  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Stellt die Herrschenden des Septemberregimes vor Gericht“ fordert das liberale Nachrichtenmagazin 'Nokta‘ in großen Lettern auf dem Titelblatt. Im Hintergrund ein vor genau zehn Jahren geschossenes Foto: Die Generäle, die am 12. September 1980 in der Türkei putschten. Nicht nur 'Nokta‘ wühlt mit einem Sonderdruck zum Militärputsch in der bösen Vergangenheit. Alle Zeitungen bieten Serien und Artikel zu dem Tag, als fünf Generäle die Macht ergriffen, das gewählte Parlament auflösten und staatliche Willkür und Terror zum politischen Prinzip erhoben. Keine Zeitung ohne Statistiken und Tabellen: Vom 12. September 1980 bis heute wurden eine Million und 600.000 Menschen festgenommen, meldet die Tageszeitung 'Günes‘. Rund 80 Prozent der Festgenommenen — so die realistische Schätzung des „Vereins für Menschenrechte“ — wurde gefoltert. 210.000 Angeklagte standen vor den Kriegsgerichten, gegen 7.000 Menschen wurde die Todesstrafe gefordert. 517 Menschen wurden zum Tode verurteilt. Vollstreckte Todesurteile: 50. Dann die Zahlen der Menschen, die das Regime in Polizeihaft oder im Gefängnis mordete. 'Nokta‘ war besonders genau: Foltertote 171, „auf der Flucht Erschossene“ 16, angeblicher Selbstmord 43, Tote während Hungerstreiks 14. Erinnerungen werden wieder wach. „Sollen wir sie denn füttern, anstatt aufzuhängen“, fragte der türkische Generalstabschef und spätere Staatspräsident Kenan Evren damals. Es war eine rhetorische Frage — sie hängten auf. Z. B. den 17jährigen Gymnasiasten Erdal Eren, der nach 17tägiger Verhandlung zum Tode verurteilt und am 3. Dezember 1980 von Staats wegen ermordet wurde. Oder Hidir Aslan, der vier Jahre später dem Henker übergeben wurde. Sein „Verbrechen“: Er hatte Flugblätter verteilt und an Demonstrationen teilgenommen. „Die Todesstrafe gibt es nicht nur in unseren Gesetzen, sondern auch in unserer Religion. Selbst die Bibel sieht die Todesstrafe vor.“ So Putschist Evren. Evren kassiert heute als Ex-Staatspräsident die höchste Pension des türkischen Staates und sonnt sich an im Mittelmeerstädtchen Marmaris. Seine Kumpane von damals sind ebenfalls pensioniert. Doch das Regime, dessen Fundament sie damals legten, hat bis heute nicht an Macht eingebüßt. In den ersten 13 Monaten nach dem Putsch dekretierten die Generäle, die das Parlament auseinanderjagten, 229 Gesetze. Die sogenannte „Beratende Versammlung“, die sie einberiefen, verabschiedete nochmals in 24 Monaten 397 Gesetze und eine Verfassung. Bei den Wahlen 1983 durften nur den Generälen genehme Personen und Parteien kandidieren. Die Generäle hievten den Chicago-Boy Turgut Özal, der jetzt Staatspräsident ist, in die Regierung. Bis heute gelten die Unrechtsgesetze, die die Generäle dekretierten, bis heute sitzen Tausende politische Gefangene in den Knästen. Darunter 31 Journalisten — verurteilt zu insgesamt 3315 Jahren Gefängnis — deren „Verbrechen“ darin bestand, kritische Artikel zu schreiben. Die Generäle, die angetreten waren „um das türkische Vaterland zu retten“, haben die Türkei in die Finsternis des Terrors geführt. „Wir schämen uns für das, was wir in den 10 Jahren gesehen haben. Wir schämen uns, daß wir das alles nicht verhindert haben“, schreibt 'Nokta‘ in ihrem „September“-Sonderdruck. Der bekannte Schriftsteller Aziz Nesin, selbst ein Opfer der Militärs, geht noch einen Schritt weiter. „Es ist bitter und böse. Doch diese Gesellschaft hat das Septemberregime verdient. Bis heute wurde nicht mit Evren und seinem System abgerechnet. “Doch mittlerweile mehren sich in der Türkei die Stimmen, die eine Generalabrechnung mit den Putschisten fordern. Wohlweislich hatten die Generäle in die 1982 verabschiedete Verfassung, die heute gültig ist, den berüchtigten Paragrafen 15 montiert. Demnach dürfen die Generäle, die durch den Putsch Verfassungsbruch begingen, wegen ihrer Handlungen nicht belangt und zur Rechenschaft gezogen werden. Ein Sonderparagraf, der sichern soll, daß die Putschisten ihr Leben lang straffrei ausgehen. Der bekannte Rechtsanwalt Burhan Apaydin hat nun beim türkischen Parlament eine Petition eingereicht den Paragrafen 15 aufzuheben. „Sie haben Willkürgesetze verabschiedet. Sie haben die Menschenrechte mit Füßen getreten. Sie haben Familien zerstört. Es kann keine Garantie für ein demokratisches Regime geben, wenn nicht der Generalstabschef und die Oberkommandierenden des Heeres, der Luftwaffe und der Flotte vor Gericht vom 12. September 1980 vor Gericht gestellt werden.“ Der Strafrechtsprofessor Cetin Özek pflichtet seinem Kollegen bei: „Die Putschisten sind schuldig, vor dem Gesetz, wie vor der Geschichte. Sie haben sich nach Paragraf 146 schuldig gemacht.“ Paragraf 146 sieht die Todesstrafe gegen diejenigen vor, die versuchen die verfassungsmäßige Ordnung aufzuheben und die Souveränität der Nationalversammlung aufzuheben. Genau das haben die Putschisten 1980 getan. „Viel Erfolg“ wünscht der griechische Anwalt Aleksandros Likurezos, der maßgeblich daran beteiligt war, daß die griechischen Obristen von 1974 lebenslänglich hinter Gitter kamen. Auch die Oppositionsparteien im türkischen Parlament begrüßen die Initiative der Rechtsanwälte. Aussicht auf Erfolg hat die Initiative freilich nicht. Die regierende Mutterlandspartei verwaltet nur allzugern das Erbe der Militärs. Mit den Straf-, Polizei-, Gewerkschafts- und Streikgesetzen der Militärs läßt sich auch heute blendend Politik machen. Doch vielleicht wird es nicht für immer ein Wunschtraum auf Papier bleiben: „Die Herrschenden des Septemberregimes vor Gericht!“