Die Ehre einer deutschen Familie vor Gericht

Ein Beleidigungsprozeß in Bonn machte öffentlich, was die bundesdeutsche Justiz jahrzehntelang unter den Teppich kehren wollte: Die Beteiligung der Nazi-Juristen an den „Euthanasie“-Morden/ Ein Ex-Diplomat klagte gegen Juristen  ■ Aus Bonn Tina Stadlmayer

„Und wer denkt an die Euthanasie- Opfer?“ rief die Frau des Nebenklägers Helmut Kramer am Ende des Prozesses. „Wir lassen uns nicht vorwerfen, daß wir nicht an die Opfer denken“ brüllte der, wegen Beleidigung angeklagte Ex-Diplomat Ernst Jung zurück. Richter Hans-Henning Buchholz — er hatte übrigens die Herren Flick und von Brauchitsch beim Parteispendenprozess verurteilt — rügte die aufgebrachte Zuschauerin.

Die beiden Prozessparteien stimmten vorgestern abend im Bonner Landgericht der Einstellung des Verfahrens zu. Bis zuletzt herrschte in der Verhandlung eine — zumindest unterschwellig — aggressive Stimmung. Widerwillig rangen sich zum Schluß Botschafter a.D. Jung und der Jurist Kramer gegenseitige „Ehrenerklärungen“ ab. Der Angeklagte, Jung, gab zu Protokoll, er habe Kramer nicht beleidigen wollen. Nebenkläger Kramer gab zu, „daß einige, der von Dr. Jung erhobenen Beanstandungen sachlich gerechtfertigt sind“.

Nach sechs Jahren ging damit ein Prozess zu Ende, dessen Vorgeschichte bis in das Jahr 1941 zurück reicht. Der Jurist Helmut Kramer hatte 1984 in der Zeitschrift „Kritische Justiz“ ein — wie er es nennt — „besonders wohlgehütetes Geheimnis der NS-Justizgeschichte enthüllt. Im Berliner „Haus der Flieger“ trafen sich im April 1941 die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte um eine Weisung entgegenzunehmen: Strafanzeigen wegen Mordes an Geisteskranken sollten nicht mehr bearbeitet werden.“

Ermittlungsverfahren: Beihilfe zum Massenmord

Alles was die reibungslose Durchführung des geplanten Massenmordes hätte behindern können, sollte unter den Teppich gekehrt werden, schrieb der Jurist Kramer 43 Jahre später in seinem Aufsatz. Er stellte die Frage, ob das Schweigen der obersten NS- Juristen zu dieser eindeutigen Anweisung nicht Beihilfe zum Massenmord gewesen sei. Ausführlich berichtet er von einem Verfahren, das nach dem Krieg die Mitschuld der Richter und Staatsanwälte aufzeigen sollte. Das Verfahren wurde eingestellt. Einer derjenigen, gegen den damals ermittelt wurde, war der frühere Berliner Generalstaatsanwalt Friedrich Walter Jung, — Vater, des Botschafters a.D. Ernst Jung. Auch er hatte die Anweisung, geplante Massenmorde zu verschleiern, ohne Protest hingenommen. Nach dem Krieg wurde er — wie alle anderen Teilnehmer an der berüchtigten Sitzung — “außer Verfolgung“ gesetzt, also wegen seines tödlichen Schweigens nicht zur Rechenschaft gezogen.

„Schmähung eines bedeutenden Juristen der NS-Zeit“

Die ganze Geschichte wäre längst in Vergessenheit geraten, hätte nicht der, zeitweise als Richter arbeitende Jurist Helmut Kramer in seinem Aufsatz das Ermittlungsverfahren nachgezeichnet. Der Sohn des „fürchterlichen Juristen“ Friedrich Jung fühlte sich wegen des Vorwurfs, sein Vater habe Beihilfe zum Massenmord geleistet, in seiner Familienehre verletzt. Er warf Kramer in einem Brief vor, die Wahrheit vorsetzlich verfälscht und “durch Schmähung eines bedeutenden Juristen der NS-Zeit seine richterliche Mäßigungspflicht verletzt“ zu haben. Das Schreiben richtete er auch an den Dienstvorgesetzten Kramers und brachte damit ein Disziplinarverfahren in Gang. Kramer erstattete Strafanzeige wegen Beleidigung. In der ersten Instanz sprach das Bonner Amtsgericht den Briefeschreiber allerdings vom Vorwurf der Beleidigung frei. (Die taz berichtete).

Im Verlaufe dieses Verfahrens passierten äußerst seltsame Dinge. Ermittlungsakten des Prozesses aus dem Jahr 1965, in dem Jung Senior „Beihilfe zum Massenmord“ vorgeworfen worden war, verschwanden auf dem Weg von der Staatsanwaltschaft zum Amtgericht. Fünfzehn Bände gerieten auf der Strecke von der einen Straßenseite zur anderen, wie es im Beamtenjargon heißt „außer Kontrolle.“ Inzwischen sind sie — ohne Absender — bei der Staatsanwaltschaft wieder aufgetaucht. Wollte da jemand die brisanten Akten verschwinden lassen? Zweite Merkwürdigkeit: Das Berufungsverfahren, von Kramer nach dem Freispruch Jungs eingeleitet, wurde ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft eingestellt. Versehen oder Absicht? Auf jeden Fall eindeutig gesetzeswidrig. Das Landgericht Bonn mußte deshalb den Prozess vorgestern wieder aufnehmen. Der Angeklagte Jung, ein geübter Redner, stellte seinen Vater als Feind Hitlers und Mitglied eines Widerstandsverbandes dar. Seine Huldigungen an den Führer habe er nur „zur Tarnung “ gemacht. Kramer hatte enthüllt, daß Jung 1944, nach dem mißglückten Attentat auf Hitler das „schnelle Einschreiten gegen die Verräter“ begrüßt habe. Bereits 1935 habe sich der alte Jung, auch Nazi Jung genannt, in einem Aufsatz gefreut, daß die Staatsanwaltschaft „zu einem Werkzeug in der Hand des Führers geworden ist... Ihm in treuem unbedingtem Gehorsam zur Verfügung steht.“

Ernst Jung warf seinem Kontrahenten Kramer vorgestern nocheinmal vor, in seinem Aufsatz „Unrichtigkeiten und falsche Behauptungen“ über seinen Vater verbreitet zu haben. Er habe vor allem dessen Schweigen auf der Sitzung im Jahre 1941 fasch interpretiert. Sein Vater sei von der Aufforderung zum Massenmord entsetzt gewesen. Dem neben ihm Sitzenden habe er zugeflüstert: “Jetzt möchte ich den sehen, der vor Scham nicht rot wird.“ Außerdem sei er einige Tage danach zum Justizstaatssekretär gegangen und habe gegen die Anweisung protestiert. All das habe Kramer in seinem Aufsatz bewußt weggelassen. An dieser Stelle wurde der, sonst so gelassene Richter Buchholz, ungehalten. Schließlich handle es sich hier lediglich um die Darstellung von Jung Senior, warf Buchholz ein, — eine Version, die nicht widerlegt, aber auch nicht bewiesen sei.

In einem einzigen Punkt warf auch Richter Buchholz dem Autor und Juristenkollegen Kramer einen „schweren Lapsus“ vor. Er habe geschrieben, Jung sei nur sechs Wochen lang an der Front gewesen und habe deshalb von der Ermordung geistig Behinderter wissen müssen. Erwiesen ist jedoch, daß Jung über ein Jahr lang weg war. „Die Argumentation bekommt damit einen anderen Drall“ meinte der Richter. Alle anderen Vorwürfe Jungs gegen Kramers Artikel fand wohl auch Richter Buchholz nebensächlich. So zu Beispiel die Frage, ob der alte Jung auf der Sitzung 1941 — wie Kramer behauptet — Uniform getragen habe, oder — worauf der Sohn besteht — in Zivil da war.

Am Ende des Prozesses gaben beide Kontrahenten „Ehrenerklärungen“ ab. Ernst Jung stellte fest, „daß er nicht beabsichtigt habe“ Kramer mit seinem Brief zu beleidigen. Kramer gab zu, „daß einige, der von Dr. Jung erhobenen Beanstandungen sachlich gerechtfertigt sind.“ Er vertrete jedoch die Auffassung, daß nicht alle „Beanstandungen zutreffend seien.“ Beide Seiten waren mit dem Ausgang des Verfahrens unzufrieden. Kramers Frau erinnerte daran, vor welchem schrecklichem Hintergrund dieser kleinliche Beleidigungsprozess stattgefunden hatte: Bis zum Ende der Aktion, die auf der berüchtigten Sitzung im Jahre 1941 besprochen wurde, wurden über 70.000 geistig behinderte Menschen ermordet.