„Zeissianer“in Jena im Existenzkampf

Der Weltfirma „Carl Zeiss“ in Thüringen droht der Verlust von Kapitalstiftung und Firmenzeichen/ Regierung de Maizière untätig/ Empörung und Resignation in Jena/Blockadeaktion, um es den „Schnarchsäcken“ in Berlin zu zeigen — ansonsten „gehen bei uns die Lichter aus“  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Jena (taz) — In den vierzig Jahren des real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden war sie immer das industrielle „Aushängeschild“ der Herrschenden in Pankow — und eine „Insel der Glückseligkeit“ für die Werktätigen der rotgestrichenen Republik der Ulbrichts und Honeckers. Die Rede ist von „Carl Zeiss“, der legendären Fabrik für optischen Präzisionsgerätebau in Jena/Thüringen, in der rund 30.000 Menschen arbeiten, die stolz darauf sind, „Zeissianer“ zu sein.

Allen Stürmen der Zeit haben sie getrotzt, die „Zeissianer“ — auch der Verstaatlichung des gesamten Unternehmens im Jahre 1948. Doch die Umwandlung des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena und VEB Jenaer Glaswerk in die Carl Zeiss Jena GmbH und die Jenaer Glaswerke GmbH — unter der alleinigen Schirmherrschaft der Treuhandanstalt der DDR — könnte den „Zeissianern“ das Genick brechen. „Wir kämpfen um unsere Existenz“, meinte IG- Metall Geschäftsstellenleiter Manfred Förster. Rund 10.000 Arbeitsplätze stehen bei Zeiss zur Disposition, falls es der Geschäftsleitung im Verein mit dem Gesamtbetriebsrat und der Stadt Jena noch bis zum 3. Oktober gelingt, der Treuhand die 1948 mit verstaatlichte Carl-Zeiss-Stiftung wieder zu entreißen, denn die Stiftung war vor der Überführung der Zeiss-Werke in „Volkseigentum“ das monetäre Herz des gesamten Unternehmens.

Auf rund 300 Millionen DM werden die flüssigen Mittel der Stiftung geschätzt, ganz zu schweigen von den Grundstücken, Liegenschaften und Fabrikgebäuden der bis zum Juni 1990 vom Staat verwalteten Stiftung. Eine Zusage der Regierung Modrow auf Rückgabe des Stiftungsvermögens hatten die „Zeissianer“ schon in der Tasche.

Die Regierung de Maizière verschleppe die Verhandlungen, empörte sich auch Firmensprecher Lothar Janiak. Falls bis zur deutsch-deutschen Vereinigung in Berlin keine Entscheidung über die Rückgabe des Stiftungsvermögens an die Carl Zeiss Jena GmbH und die Jenaer Glaswerke GmbH erfolgt sei, könnten sich die Carl-Zeiss-Werke in Oberkochen in Baden-Württemberg die Hände reiben — „und bei uns werden alle Lichter ausgehen“ (Janiak). Ohne die Stiftung und ohne die mit dem Besitz der Stiftung verbundene Erlaubnis zur Verwendung des etablierten Firmenzeichens werde Carl Zeiss Jena nämlich „vom Weltmarkt verschwinden“. Und dann, so Gewerkschaftler Förster, ginge es nicht mehr um „nur“ 10.000 Arbeitsplätze, sondern um alles, auch für die Stadt Jena mit ihren 106.000 Einwohnern. Für die 10.000 Menschen, die im Rahmen der „Gesundschrumpfung“ (Janiak) auf alle Fälle bis Mitte 1991 „freigesetzt“ werden müßten, habe man bereits Sozial- und Umschulungspläne erarbeitet, meinten Firmenleitung und Gewerkschaft übereinstimmend.

In Oberkochen, im Westen sitzen die „Zeissianer“, die in den 50er Jahren die gesamten Firmenunterlagen inklusive Stiftungssatzung aus Jena „herausgestohlen“ hätten, berichtet Stadtratsmitglied Isabel Günther (die Grünen). Die Lokalpolitikerin kämpft in einem Allparteienmagistrat — unter Ausschluß der PDS — gleichfalls um die Zukunft des Werkes „und um die Zukunft der gesamten Region“. Nach der Vereinigung sei nämlich die in Oberkochen neu gegründete Carl-Zeiss-Stiftung die einzig legitime. Das jedenfalls habe der Bundesgerichtshof in einem 1967 rechtskräftig gewordenen Urteil festgestellt. Und in einem vereinigten Deutschland gelte dieser Richterspruch dann auch für den Ostteil der neuen Republik, obgleich der Firmensitz — und das habe Firmengründer Ernst Abbe ausdrücklich so bestimmt — „immer Jena gewesen“ sei. Günther: „Falls die Treuhand dem Jenaer Werk das Stiftungsvermögen nicht bis Ende September zurückgibt, gehört es automatisch den – Zeissianern – in Oberkochen. Und wir im Osten, die wir über all die Jahre hinweg die Hauptlast der Nachkriegspolitik zu tragen hatten, gehen wieder leer aus.“

Verbittert und enttäuscht sind sie, die „Zeissianer“ im Osten. Und viele wünschen sich die alten Verhältnisse zurück, denn „da war wenigstens der Arbeitsplatz sicher“, meinte ein Arbeiter im Blaumann beim Schichtwechsel vor dem Werkstor. Geradezu anachronistische Graffiti zieren denn auch die Mauern rund um den Zeiss-Komplex in der Innenstadt von Jena: „Kapitalismus ist Ausbeutung — darum Klassenkampf!“ Doch an der von der Geschäftsleitung, den Gewerkschaften und den Parteien organisierten Kundgebung in der vergangenen Woche nahmen dann nur knapp 5.000 Menschen teil. „Ein Armutszeugnis“, meinte IG-Metaller Förster frustriert.

Dennoch riefen die Metaller am Montag über die Werkslausprecher für den Dienstag zur Blockadeaktion auf, um es den „Schnarchsäcken“ in Berlin einmal richtig zeigen zu können. Alle Zufahrten zur Stadt sollen für zwei Stunden „dichtgemacht“ werden. Förster: „Das ist unser letztes Druckmittel.“ Stadträtin Isabel Günther glaubt dagegen, daß die Menschen in der DDR — „nicht nur in Jena“ — einfach keine Kraft mehr hätten, sich zu engagieren: „Überall offene Wunden.“ Resignation scheint sich auch unter den Parteien breit gemacht zu haben: Kein Aufruf zur Demonstration kursierte in der Stadt, kein Plakat informiert die Jenaer über den Existenzkampf der „Zeissianer“. „Irgendwie kann sich hier keiner vorstellen, daß die alte und rennomierte Weltfirma Carl Zeiss tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet ist“, versucht Isabel Günther die Lethargie der Jenaer zu erklären.

Schließlich war die Firma Zeiss das „Aushängeschild“ des alten Regimes, weil die von den hochqualifizierten Werktätigen hergestellten Ferngläser und Teleskope, Mikroskope und fototechnischen Geräte weltweit Anerkennung fanden und deshalb zu den Exportschlagern der DDR zählten. Und die Firma Zeiss war eine „Insel der Glückseligkeit“ für die Werkangehörigen, weil Firmenmitbegründer Ernst Abbe (1840- 1905) kein Kapitalist sein wollte — und noch kein Sozialist war. Als der Physiker Abbe Ende des 19. Jahrhunderts — nach dem Tode seines Partners Carl Zeiss — die Anteile der Familie Zeiss am gemeinsamen Unternehmen „Jenaer feinmechanische und optische Industrie“ aufkaufte und die Carl-Zeiss-Stiftung zu Jena gründete, legte er den Grundstein für das Urvertrauen der „Zeissianer“ in „ihr Werk“. Alle erwirtschafteten Gewinne des Unternehmens sollten „fürderhin“ in die Stiftung fließen — zur Wohlfahrt der gesamten Region Ostthüringen, zur Anhebung des sozialen und kulturellen Niveaus der „Zeissianer“ und zum „Nutzen und Frommen“ von Wissenschaft und Kunst. Und das System des alten Abbe funktionierte bis heute.

Am Firmensitz Jena entstanden Arbeitersiedlungen, die ortsansässige Universität bekam großzügige Mittel für Forschung und Lehre zugestanden und soziale und kulturelle Einrichtungen gehörten zum Jenaer Standard. Und deshalb haben die Jenaer nicht nur ihren Arbeitsplatz zu verlieren, falls sich die Carl-Zeiss- Stiftung in Jena nach dem 3. Oktober in Luft auflösen sollte.

„Abhaken“ (Förster) können die Jenaer dann auch die Zeiss-Kinderklinik, das Zeiss-Planetarium, das Zeiss-Volkshaus, die Zeiss-Bibliothek, das Zeiss-Kinderlandheim, die Zeiss-Pensionskasse und selbst die Zeiss-Sterbegeldkasse.