Null Bock auf Ehe in der DDR

Das politische „Heiratsfieber“ wirkt sich offenbar verheerend auf das Privatleben der DDR-Bürger aus: Immer weniger junge Leute zwischen Saßnitz und Leipzig marschieren noch zum Traualtar  ■ Von Peter Tomuscheit

Lothar de Maizière und Helmut Kohl haben das Aufgebot schon bestellt. Auch Walter Momper und Tino Schwierzina wollen — im Namen von Ost- und Westberlin — nicht mehr länger warten. DDR und BRD werden den Bund fürs Leben schließen. Lassen wir es dahingestellt sein, ob es nicht eine überstürzte Heirat wird und wer dabei die bessere Partie macht. Jedenfalls ist ganz Deutschland in Hochzeitsstimmung. Ganz Deutschland? Nein, auf das Privatleben der DDR-Bürger wirkt das politische Heiratsfieber nicht gerade ansteckend: Immer weniger junge Leute marschieren noch zum Traualtar; vor Monaten bestellte Aufgebote werden eiligst zurückgezogen; in manchen DDR-Städten ging die Zahl der Trauungen um die Hälfte zurück. In Ost- Berlin schaut es nicht viel anders aus: In den ersten sieben Monaten des Jahres sank die Hochzeitsquote um 15Prozent. Allein im Juli lag die Zahl der Aufgebote um ein Drittel niedriger als 1989. Beispiel: Pankow. Im Standesamt in der Johannes-R.-Becher-Straße wird traditionell besonders gern geheiratet — vor allem der Atmosphäre wegen. Ein mit Schnitzereien und Intarsien reich geschmücktes Jugendstil-Trauzimmer lockt Heiratswillige auch aus anderen Bezirken. Seit drei Jahrzehnten nimmt die Standesamts-Leiterin, Frau Mühlberg, hier schon die Aufgebote entgegen und vollzieht auch die Trauungen. Doch momentan hat sie deutlich weniger zu tun als früher. „Heute am Donnerstag hatten wir zum Beispiel nur fünf Eheschließungen. In den vorhergehenden Jahren wären es mehr als doppelt soviel gewesen. Gerade im August und September ist sozusagen die Hoch-Zeit bei den Hochzeiten. Davon ist im Moment nichts zu merken.“

Vor der Wende wurde in der DDR früher und häufiger geheiratet als im Westen. Und das hatte seine Gründe, vor allem materielle: Einem unverheirateten Paar stand keine gemeinsame Wohnung zu, dem Ehepaar mit Kind dagegen wurde eine Drei-Zimmer-Wohnung zugewiesen. Für die nötige Einrichtung gab es dann noch einen zinslosen Ehekredit in Höhe von 7.000 Mark. Falls die Ehe auf Sand gebaut war, sicherte der Staat die materielle Versorgung — ein langer Kampf vor Gericht um Unterhaltsansprüche war nicht nötig. Geschieden war man also leicht, und die DDR-BürgerInnen machten von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch: Die DDR war „Europameister“ in Sachen Scheidung (nur in den USA und der UdSSR ging man noch häufiger auseinander).

Mit den finanziellen Vorteilen für Heiratswillige ist es jetzt jedenfalls vorbei: Kredite sind für Verheiratete nicht einfacher zu haben als für Ledige; Wohnungen verteilt jetzt gnadenlos der Markt, und ein neues Scheidungsrecht ist in Arbeit. Wer weiß, ob man nicht demnächst von der Sozialhilfe leben muß und sich dann unverheiratet besser stellt (bei der Sozialhilfe wird das Einkommen des Ehepartners angerechnet)? Also kommen die DDR-Bürger beispielsweise ins Pankower Standesamt und legen ihre Anträge erstmal auf Eis. „Die Menschen nehmen eine abwartende Haltung ein“, berichtet Frau Mühlberg. „Das ist auch die häufigste Begründung, die ich hier zu hören bekomme: Man will erstmal sehen, was sich mehr lohnt in Zukunft: ledig zu bleiben oder zu heiraten. Die soziale Unsicherheit ist eben sehr groß. Ein Pärchen hat gestern beispielsweise abgesagt, weil die Frau arbeitslos geworden ist. Der Mann ist außerdem Ausländer, man weiß nicht, was wird, und von einem Gehalt konnten sie auch nicht leben zu zweit.“

Dafür, daß man im Moment vor allem abwartet, keine Risiken eingehen will, spricht auch, daß die Scheidungsrate ebenfalls kräftig zurückgeht. Die DDR-BürgerInnen auch in Herzensangelegenheiten nüchterne Rechner also? Vor der Tür des Pankower Standesamts treffe ich dann noch einen jungen Ost-Berliner, der sein Aufgebot nicht zurückziehen will. Im Gegenteil: Er und seine Braut wollen jetzt gerade heiraten. „Mein Vater hatte Ende letzten Jahres noch gesagt, wir sollten möglichst bald heiraten, damit wir die 7.000 Mark noch kriegen. Aber ich war immer der Meinung: Entweder heirate ich oder ich lasse es ganz sein.“