»Saubermachen für die Hauptstadt«

■ Zunehmende Verwirrung um die heutzutage restriktiv gehandhabte Regelung, Freiluftausschank nach 22 Uhr zu unterbinden/ »Anzeigenflut« der Polizei stapelt sich beim Tiefbauamt/ Behörde will nicht um jeden Preis jetzt den Biersheriff spielen

Kreuzberg. Selbst das frischeste Bier schmeckt schal bei dem Gedanken, daß man vielleicht als Mittäter bei der Begehung einer Ordnungswidrigkeit von pflichtbewußten Polizeibeamten am Kneipentisch auf frischer Tat gestellt werden könnte. Der Ursprung dieser so plötzlich aufgetretenen Gefahr liegt, wie schon gemeldet, in der seit kurzem knallhart durchgesetzten »Anordnung über die Nutzung öffentlichen Straßenlandes«, die den einzelnen Kneipen in der Regel einen »Freiluftausschank« bis 22 Uhr genehmigt. Wer darüber hinaus seine Gäste noch weiter unter freiem Himmel verköstigt, muß neuerdings mit einer Anzeige rechnen.

Nun liegt Kreuzberg in Berlin, und Berlin ist schon immer stolz darauf gewesen, »durchgehend geöffnet zu sein«. Deshalb herrschte im Bezirk in den letzten Jahren ein »feuchter Frieden« zwischen Ämtern und Kneipenbesitzern. Erfrischendes Naß konnte auch noch nach 22 Uhr unterm sommernächtlichen Sternenhimmel trockene Kehlen regenerieren, ohne daß die Gesetzeshüter Dienstblock und Kugelschreiber zückten. Damit ist es jetzt vorbei. Aber eine öffentliche Podiumsdiskussion brachte nicht ans Licht, wer für die restriktivere Auslegung verantwortlich ist. Weil niemand offen zugab, derjenige zu sein, der aus diesem oder jenem Grund um 22 Uhr den drohenden Zeigefinger hob, blühten alsbald die wildesten Gerüchte. »Kiezberuhigung« ahnte der eine, »Saubermachen für die künftige Hauptstadt« der andere.

Die Genehmigungen zum Freiluftausschank gibt das Tiefbauamt. Dort weiß man schon länger, daß auch nach 22 Uhr noch viel Bier an der frischen Luft genossen wird, und auch, daß sich die Zahl der Anträge von Jahr zu Jahr erhöht. Für diese Saison waren es 210. Damit steigt natürlich auch das Risiko der Lärmbelästigung derjenigen, denen der Sinn nachts eher nach schlafen steht. Der Leiter des Amtes, Herr Misch, bestätigte dann auch, daß ihn verstärkt Beschwerden lärmbelästigter Kneipenanwohner vorliegen. Diesen wird nachgegangen, und in den meisten der Fälle kommt es zu einer einvernehmlichen Lösung zwischen allen Beteiligten. Nun liegt beim Tiefbauamt aber ein Stapel anderer Anzeigen vor. Diese kommen nicht von schlafgestörten Bürgern, sondern von nachtarbeitenden Polizisten. 50 Anzeigen haben diese im letzten Monat erstattet. Die Beamten gehören zum Abschnitt 53, der für Kreuzberg zuständig ist. Der Abschnittsleiter, Herr Hinzke, hat dafür eine einfache Erklärung: »Wir haben in den letzten Monaten zunehmende Anzeigen wegen Ruhestörung bekommen und sind denen nun nachgegangen.« Wie viele es waren, konnte er nicht sagen — eben viele. Im Normalfall gibt die Polizei die Lärmanzeigen weiter an das Gesundheitsamt. Dort sind sie zwar auch angekommen, aber »viele« sind es nicht: Im Mai waren es 18, im Juni 7, im Juli 19 und im August ganze 3. Auch die beziehen sich nicht einmal alle auf den Krach beim Freiluftausschank nach 22 Uhr. Im Juli waren es zum Beispiel nur 3 der 19 Fälle. Der Grund für die polizeilich ausgestellten Anzeigen ist dann auch ein ganz anderer. Nicht lärmgeplagte Bürger werden darin als Ursache genannt, sondern einzig die nicht genehmigte Benutzung öffentlichen Straßenlandes nach 22 Uhr. Das bestätigt auch die Akteneinsicht, in der die anzeigeerstattenden Beamten auf die Frage: Liegt Lärmbelästigung vor?, stets mit Nein geantwortet haben. Herr Hinzke gibt das auch zu. Das Problem ist aber, daß die meisten Anzeigen anonym die Polizei erreichen. Bei der Feststellung der Lärmquellen habe man dann die Schankgärten der Kneipen ermittelt. Abteilungsleiter Hinzke, der schon zwei Jahre im Abschnitt 53 Dienst tut, war dabei ganz erstaunt, das sich praktisch niemand an die 22-Uhr-Regelung hält. Anfang Juli fand dann eine Sitzung statt, in der beschlossen wurde, das von da an peinlichst auf die Einhaltung der Regelung gedrängt und dem Gesetz dadurch Achtung verschafft wird. Damit er sich nicht den Vorwurf des Selektierens anhören mußte, legte er fest, daß flächendeckend gearbeitet wird. Daher die »Anzeigenflut«, von der Kneipiers sprechen. Schwächen sind in der Verordnung nicht zu übersehen, denn die Genehmigung für Freiluftausschank kostet Geld. Damit bezahlt zum Beispiel jemand für seine fünf Gäste, die draußen Kebab essen, »Lärmgebühr«, obwohl über ihm die U-Bahn hinwegdonnert. Das sieht auch Herr Misch vom Tiefbauamt so, dessen Behörde letztlich über die Anzeigen entscheidet. Herauskommen wird dabei nichts anderes als früher auch. Er jedenfalls sieht für sich keinen Handlungsbedarf, auf einmal den Biersheriff zu spielen. Thorsten Preuß