Postmoderne — gegen ihre Mißverständnisse verteidigt

 ■ Von Wolfgang Welsch

Man weiß heute, daß der englische Ausdruck „post- modern“ schon überraschend früh, nämlich siebzehn Jahre vor dem deutschen Substantiv „die Moderne“ auftauchte: 1870 im Unterschied zu 1887. Man weiß auch, daß der Terminus dann 1917 bei Pannwitz, 1934 bei Oniz, 1947 in der Toynbee-Ausgabe wiederkehrte, um schließlich seit dem Ende der fünfziger Jahre im Kontext einer US-amerikanischen Literaturdebatte die bis in unsere Tage reichende Konjunktur zu gewinnen. Bald griff der Ausdruck auch auf andere Künste über, am prominentesten auf die Architektur; er ist in Wissenschaften wie die Soziologie und ebenso in Theologie, Jurisprudenz und Biologie eingedrungen und hat schließlich die Philosophie erreicht: 1979, mit Jean-Fran¿ois Lyotards Schrift La Condition postmoderne (deutsch: Das postmoderne Wissen). Zwar hatte man zuvor schon manche philosophischen Autoren insbesondere französischer Provenienz als „postmodern“ bezeichnet, beispielsweise Derrida wegen seiner Kritik am abendländischen Logozentrismus, Foucault ob seines Nietzscheanismus, Deleuze angesichts seines Plädoyers für den „Schizo“. Aber erst durch Lyotard gewann all dies deutlichere Konturen — und direktere Angreifbarkeit.

Deutsche Regie

Die bundesrepublikanische Debatte — auch in Sachen Postmoderne eine „verspäteten Nation“ — war von vornherein durch Schemata der Abwehr und Polarisierung bestimmt. Das hatte nicht nur verständliche Gründe, sondern führte auch zu unglaublichen Auswüchsen. Schnell kam es zur Frontbildung: Moderne gegen Postmoderne, Rationalität gegen Irrationalität, Germanophonie gegen Frankophonie oder (mit einer seit dem neunten Jahrhundert abrufbaren Daueropposition): hie Deutsch — dort Welsch.

Das Lachen über manches Geplänkel mußte einem vergehen, als im Namen der Polarisierungen schweres Geschütz aufgefahren wurde — allerschwerstes Geschütz. Man hat die postmodernen Denker zu diffamieren versucht, indem man ihnen den Stempel des Faschismus aufdrückte. Scheinbar vorsichtige Präfixe wie krypto-, prä- oder neo- sollten den Faschismus-Vorwurf nur akzeptanzfähiger machen. Raus aus der Gelehrtenrepublik, hin zu den Reps — so dachte und wünschte es mancher. Bedenkt man nur einen Moment lang, daß Lyotards philosophisches Hauptwerk,Der Widerstreit, von Anfang bis Ende ein Buch über „Auschwitz“ ist und daß Lyotard, ähnlich erschüttert wie Adorno, seine philsophische Arbeit der Frage widmete, wie ein „Denken nach Auschwitz“ noch möglich sei, so wird offenbar, wie unsäglich jener Faschismus-Vorwurf ist. Jeder, der die Texte der beschuldigten Denker kennt und der sich der modernen Tugend der Redlichkeit nicht vollends entschlagen hat, wird das zugeben müssen.

Die Malaise begann freilich nicht erst bei solchen Großvorwürfen, sondern mit kleinen Spitzen. Mit anscheinend deskriptiven, in Wahrheit gezinkten Formulierungen wurde ideenpolitisch Regie geführt.

Manfred Frank, ein exzellenter Kenner der Materie und engagierter Vermittler zwischen französischen und deutschen Positionen (der allerdings Narben zurückbehielt, nachdem er Schläge ausgeteilt hatte) sprach in Bezug auf Derrida, Deleuze und Lyotard in der 'Frankfurter Rundschau‘ vom 5.März 1988 von „neufranzösischen Therorien“. Wie kam er auf den Ausdruck „neufranzösisch“? Im Namen welcher altfranzösischen Tradition sollten durch diesen Frankschen Neologismus die genannten Denker ins Abseits „vaterlandsloser Gesellen“ gerückt werden? Franks These lautete ja: Diese postmodernen Denker sind gar keine „richtigen“ Franzosen, sondern Deutsche — man ahnt schon, von welcher schlimmen Sorte.

Frank liefert damit die deutsche Selbstbezichtigungsvariante zum französischen Verdikt Luc Ferrys und Alain Renauts sowie zur US- amerikanischen Schelte Allan Blooms nach, wonach jedesmal eine deutsche Infiltration schuld sei an der Vergiftung des französischen Denkens bzw. am Niedergang des amerikianischen Geistes.

Die deutsche Imprägnierung des „neufranzösischen“ Denkens wird Frank zufolge an Fatalität nur noch durch den Re-Import dieser Theorien übertroffen: „Die neufranzösischen Theorien werden von vielen unter unseren Studenten wie eine Heilsbotschaft aufgenommen. [...] hier saugen die jüngeren Deutschen begierig, unter dem Vorgeben der Öffnung ins Französisch-Internationale, ihre eigene nach dem Dritten Reich unterbrochene irrationalistische Tradition wieder ein, die dadurch von aller nationalen Schlacke gereinigt scheint, daß sie durch die Hand der Franzosen gegangen ist.“ Frank zufolge berühren sich die „Neufranzosen“ nicht bloß mit „Präfaschisten“ wie Klages, Spengler und Baeumler, sondern sind die — geistig nicht französischen, sondern faschistisch-deutschen — Propheten, die „den jüngeren Deutschen“ die unverschämt-fröhliche Wiederaufnahme des Faschismus ermöglichen.

Wenig später hat Manfred Frank in der anderen Frankfurter Zeitung diesen Kurzschluß zwischen Postmoderne und Faschismus fortgeführt. Zunächst sagte er, die „postmodernen“ Theorien seien nur scheinbar neu und würden zu Unrecht so genannt, in Wahrheit kehre in ihnen „ein Altes“ wieder. Anschließend hat er die Vertreter des „neufranzösischen Denkens“ dann umstandslos zu „postmodernen Wiederaufarbeitern des vorfaschistischen Anti-Modernismus“ erklärt. ('FAZ‘, 29.6.88)

Als Heilmittel empfahl Frank der deutschen Philosophie, „in der Herausforderung durch die — vor allem französische — Postmoderne die Chance zur Wiederbegegnung mit ihrer eigenen, verleugneten Traditon“ zu erkennen. Diese Rezeptur klingt irritierend — und ist es doch nicht gänzlich. Denn diesmal bezieht sich die Formel von der „eigenen, verleugneten Tradition“ nicht auf faschistisches Gedankengut, sondern auf eine über jeden Zweifel erhabene „deutsche“ Tradition, auf den hehren Idealismus und die holde Romantik nämlich — von denen Frank zufolge offenbar keinerlei Verbindungslinien zum (nunmehr undeutschen?) Faschismus führen.

Der gegen die „Neufranzosen“ angezettelte Nationalkrieg ist in Wahrheit ein Stellvertreterkrieg gegen einen inneren Feind. Vieles kehrt darin wieder. Beispielsweise die alte Anklagefigur der Jugendverführung, die, seit sie erstmals in Athen gegen Sokrates, den Philosophen der Infragestellung par excellence, gerichtet wurde, die Philosophie wie ein ständiger Schatten begleitet. Daher die Neuauflage des Athener Tribunals als Tübinger Tribunal — als „Kleiner (Tübinger) Programmentwurf“, gegen die „Neufranzosen“ gerichtet. Aber welche Untertöne kehren dabei aus einer Erbmasse wieder, die doch auch Frank lieber auf Distanz halten sollte! „Wir sind doch Deutsche und wollen uns als Deutsche finden lassen. Man führe uns abermals vor die Feinde, die Welschen, sie sollen Hunde vor sich finden, die nicht laufen, sondern weidlich beißen können“ — so stand es, gegen „die Welschen, die nichts Gutes [...] von den Deutschen verdient“, gerichtet, 1859 bei Gustav Freytag zu lesen — in den Bildern aus der deutschen Vergangenheit. — Sollte man das nicht tatsächlich lieber Vergangenheit sein lassen?

Statt Verwirrspielen: Verflechtungen

Längst gab es Anzeichen, daß die einfache Opposition von Moderne und Postmoderne nicht stimmen kann. Der Gegensatz war weithin durch Unterstellungen erzeugt. Man hatte sich einen Popanz von Postmoderne zurechtgezimmert — um besser darauf einschlagen zu können. Ich gebe ein textlich überprüfbares Beispiel.

In der deutschen Foucault-Kritik kursierte seit langem als Foucaults schlimmstes Diktum der Satz „Die Folter, das ist die Vernunft“. Merkwürdig blieb nur, daß die Kritiker (auch derselbe Kritiker mehrfach hintereinander) immer wieder andere Deutungen des Satzes gaben — bloß das eine, was man dringend erwartet hätte, die Angabe nämlich, wo der fragliche Satz bei Foucault eigentlich stehe, unterblieb regelmäßig. Sollte es sich um eine freie Erfindung handeln? Nein, schlimmer: Man praktizierte — gegen Foucaults ausdrückliche Klarstellung — eine bösartige Verkehrung des Sinns. Denn Foucault hatte in dem (schließlich im 'Literaturmagazin‘ Nr.8 aufgefundenen) Interview gesagt, daß die Folter- Formulierung nur für „raison“ — was er dort ausdrücklich als „instrumentelle“ oder „technologische“ Rationalität erläuterte — gelten könne, auf keinen Fall aber für „Vernunft“: „Der deutsche Begriff Vernunft hat eine ethische Dimension. [...] ich verstehe sehr gut, daß im Deutschen die Folter nicht Vernunft sein kann.“ Daraus machten diejenigen, die uns über Foucault aufzuklären vorgaben, flugs das Gegenteil: „Die Folter, das ist die Vernunft.“ — Das intellektuelle Niveau derer, die Foucaults Satz so pervertierten, steht außer Frage. Sie müssen gewußt haben, was sie taten, als sie durch diese Praxis gezinkter Zitate tatsächlich Anlaß zum Zweifel gaben, ob „der deutsche Begriff Vernunft“ heute noch „eine ethische Dimension“ hat.

Es gab freilich nicht nur solcherart kalkulierte, sondern auch unfreiwillige Verwirrspiele. So hat ein engagierter Vertreter der Kritischen Theorie, Hauke Brunkhorst, eines Tages Habermas' Diktum, „jeder Diskurs“ sei „sozusagen unmittelbar zu Gott“ (wobei Habermas hinzugefügt hatte, das könne „nicht weiter erstaunen“), nicht mehr als Habermas- Satz anerkannt, sondern für eine Formulierung der französischen „Irrationalisten“ gehalten, die man nur anführen müsse, um diese Postmodernen vollendeter Lächerlichkeit preiszugeben. — Die Verwechslung entbehrt gewiß nicht der Komik; ich möchte sie hier aber nicht lächerlich, sondern aufschlußreich nennen. Unterlaufen kann sie deshalb, weil der Unterschied der beiden Seiten kein Unterschied ums Ganze ist. Diese Affinität ist zu erläutern.

Meine These ist, daß das Verhältnis von Postmoderne und Moderne weit eher durch Verflechtungen gekennzeichnet als im Sinn einer strikten Entgegensetzung aufzufassen ist. Darauf haben die Theoretiker der Postmoderne selbst verschiedentlich hingewiesen. Bereits der Terminus „Postmoderne“ deutet durch seine Ambivalenz (Absetzung von der Moderne und gleichzeitige Rückbindung an sie) dergleichen an. Wenn etwas neu ist an der Postmoderne, dann gerade dies, daß sie sich nicht als neueste Epoche versteht, die alles Vergangene hinter sich läßt, anders gesagt: daß sie sich gerade nicht im Stil des Modernismus versteht — denn dieser übergroße Absetzungsgestus und epochale Kraftakt, demzufolge alles Bisherige passé sein und nun etwas ganz anderes beginnen sollte, war just ein Definitionsmerkmal der Moderne und ihres Modernismus. Hätten die Theoretiker der Postmoderne je einen solch eklatanten Bruch behauptet, so wären sie schlicht modern und modernistisch geblieben, hätten nicht den geringsten wirklichen Schritt in Richtung Postmoderne unternommen. Sie haben derlei Epochenbrutalismus aber nie vertreten. Derrida und Vattimo beispielsweise gehören zu den luzidesten Kritikern dieser Vorstellung, und Lyotard hat die Postmoderne als ein „Durcharbeiten“ bzw. „Redigieren“ der Moderne bestimmt.

Das Mißverständnis der Postmoderne als der vorgeblich neuesten Epoche blieb vielmehr denjenigen ihrer Gegner vorbehalten, die partout die reine Moderne gegen eine ganz andere Postmoderne verteidigen wollten. Es findet sich — in dubioser Allianz — andererseits auch bei jener deutschen Sonderrichtung, die sich des Etiketts „Postmoderne“ bloß bedient, um die eigenen prämodernen Gehalte mit dem Pathos eines neuen Äons auszustaffieren und attraktiv zu machen, wie Peter Koslowski das in seiner im Auftrag des Bundeskanzleramts gefertigten Studie getan hat. (Seither bemüht er sich unablässig, nachzuweisen, daß die sogenannten Postmodernen in Wahrheit gar keine Postmodernen, nämlich keine Postmodernen in seinem Sinne sind — womit er gottlob Recht hat.)

Das andere Geschichtsverhältnis der postmodernen Konzepte verweist auf einen wesentlichen Unterschied zur Moderne. Die Postmoderne rechnet mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, mit der Überlagerung und Durchdringung von Heterogenem und der Vielfalt von Zeit- und Geschichtsformen, wohingegen die Moderne stets zur Vereinheitlichung gemäß einem vorherrschenden Muster, zur Teleologisierung im Namen des Fortschritts und zur Favorisierung eines einzigen, direkt auf das Heil gerichteten Zeitpfeils neigte. Ein plural konturiertes Zeit- und Geschichtsverständnis tritt einem im Kern einförmigen gegenüber.

Diese Postmoderne ist nicht eine Erfindung von Träumern, sondern die konsequente Weiterführung und radikalisierende Einlösung der „harten“ wissenschaftlichen, der „experimentellen“ künstlerischen und der „pluralen“ sozialen Moderene des 20.Jahrhunderts. Klar entgegengesetzt ist sie nur jener älteren Version von Moderne, die man genauer und besser als „Neuzeit“ bezeichnet und die das Projekt einer Universalwissenschaft verfolgte, die sich anheischig machte, auf einheitlicher Methodenbasis sämtliche Probleme zu lösen. Demgegenüber hat aber schon die Wissenschaft dieses Jahrhunderts im Gefolge der „Grundlagenkrise“ (Einsteinsche Relativitätstheorie, Heisenbergsche Unschärferelation, Gödelscher Unvollständigkeitssatz) erkannt, daß der Wirklichkeit nicht mit Totalitätsansprüchen, sondern nur mit pluralen Modellen und situations-spezifizierten Theorien beizukommen ist. Die Wirklichkeit ist nicht homogen, sondern heterogen, nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, sondern divers strukturiert. Sie hat — auch dieser avancierten Wissenschaft zufolge — sozusagen ein postmodernes Design.

Auf solche Verflechtungen von Moderne und Postmoderne suche ich mit meiner Rede von „unserer postmodernen Moderne“ hinzuweisen. Ich meine damit, daß wir sehr wohl noch in der Moderne leben, daß wir aber deren heute fällige Form genau dann realisieren, wenn wir dem Moment Rechnung tragen, die man inzwischen als „postmodern“ zu bezeichnen pflegt.

Aufklärung — modern und postmodern

Habermas hat von der modernen Ausbildung hochgradig differenzierter Vernunftformen gesagt, daß es sich dabei zwar um „Vereinseitigungen“ handele, aber diese Differenzierung mache doch auch die „eigene Würde“ der Moderne aus. Kognitiv-instrumentelle, moralisch-praktische und ästhetisch-expressive Vernünftigkeit können nicht mehr auf einen Generalnenner gebracht werden. Ein Meta-Diskurs ist ausgeschlossen. Das schafft Berührungspunkte mit postmodernem Denken à la Lyotard.

Ein Dissens entsteht erst anläßlich der Frage, ob es jenseits der ausdifferenzierten Vernunftmomente oder quer durch sie hindurch noch einmal eine vernünftige Form ihrer Verbindung geben müsse, anders ausgedrückt: ob es nur noch Rationalitäten oder auch noch Vernunft gebe. Beide Konzeptionen lehnen die Annahme eines Metaprinzips oder einer Metatheorie ab. Das ist das Signum von Modernität heute. Habermas aber bemüht sich dann noch einmal um die Entwicklung eines Verfahrens, das Nachfolgeleistungen des alten Einheitsgedankens zu garantieren vermag, und er glaubt, ein solches Verfahren in der Kommunikation und deren Ausrichtung auf Konsens gefunden zu haben. Lyotard hingegen argwöhnt, daß damit durch die Hintertür erneut eine restriktive Vereinheitlichung eingeführt wird, und er ist sicher, daß Konsens das ausmünzbare Ziel zwar mancher, aber nicht aller Rationalitätsformen ist, weshalb nur in manchen Streitfällen die Wahrheit auf der Seite des Konsenses, in anderen hingegen auf der des Dissenses liegen wird, so daß ein generelles Konsensansinnen prinzipiell verfehlt wäre. Das ist die Position der Postmodernität.

Dann muß man über diesen Grundunterschied sprechen und — jenseits vorschneller Verdächtigungen und eines allzu wohlfeilen Polemik-Rituals — anhand dieser Sachfrage den Streit zwischen Moderne und Postmoderne klären. Die Vertreter der Moderne werden dabei denen der Postmoderne entgegenhalten, daß ein Basisdissens doch immer nur mittels eines Konsenses feststellbar sei; die Postmodernen aber werden antworten, daß ein solcher Konsens (der wichtig und möglich ist) offenbar nur den Sinn hat, den Dissens erkennbar werden zu lassen, womit er genau dasjenige, um dessentwillen die Konsensualisten auf Konsens setzen — die Möglichkeit letztlicher inhaltlicher Übereinstimmung und gemeinsamer Entscheidung nämlich — zumindest für diesen Fall schon einmal als unmöglich erkennt. Hier, denke ich, „gewinnt“ derjenige, der mit Dissensen rechnet, gegenüber demjenigen, der zu wenig unterschieden hat zwischen einem Konsens über Dissens und einem Konsens, der darüber hinaus zu inhaltlicher, entscheidungsrelevanter Einigung führen muß. Mindestens implizit unterstellt der Konsenstheoretiker stets das letztere. Auch wo er vom Anspruch, eine gelingende Lebensform „auszumalen“, abrückt, hält er am Glauben an eine letztmögliche Übereinstimmung in inhaltlichen Fragen fest. Dieser Glaube liegt noch der Rede von „symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung“ zugrunde. Für den Postmodernen hingegen hat dieser Glaube mythische Züge, denen sein Herz zwar noch entgegenschlagen mag, denen aber sein Kopf mit guten Gründen nicht mehr folgen kann.

Einige Folgerungen

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Die postmoderne Anerkennung der prinzipiellen Möglichkeit von Grunddissensen gebietet eine doppelte Aufmerksamkeit: gegen die Strategien systematischen Dissens- Ausschlusses und scheinrationaler Diskreditierung des Abweichenden einerseits, für die präzise Wahrnehmung und nachhaltige Beachtung von Grunddissensen andererseits. Genau hier liegt das kritische Potential, die Widerstandskraft von Lyotards Ansatz, der insgesamt — mit einer Unterscheidung von Hal Foster gesprochen — der „Postmoderne des Widerstands“ im Unterschied zur „Postmoderne der Reaktion“ zuzurechnen ist.

Wer in letzter Instanz stets mit Konsensen rechnet, wird (im allgemeinen, ohne es zu merken) immer wieder Vereinheitlichungen zuarbeiten. Wer hingegen Grunddissense für möglich hält, wird gegen die schleichende und manifeste Vereinheitlichung zum Anwalt des Differenten werden. Solches Eintreten für das in den etablierten Diskursen Unterdrückte und das mit gutem Willen (dem „guten Willen zur Macht“) Ausgeschlossene ist die postmoderne Version von Emanzipation. Dies macht noch einmal verständlich, warum Lyotard ein Buch über „Auschwitz“ schreiben konnte und warum es so unsäglich falsch ist, sein Denken durch den Einwurf, Antimodernismus begünstige Faschismus, ausgerechnet auf diejenige Seite abdrängen zu wollen, gegen die es sich am vehementesten — und effizienter als ein allzu selbstsicherer Modernimus wendet.

Kritische Theorie — „modern“ oder „postmodern“?

Der Unterschied von Moderne und Postmoderne ist kein Unterschied ums Ganze. Kritische Theorie aber hat ihren Ort gewechselt; man findet sie heute eher in „postmodernen“ als in „modernen“ Konzepten.

Seit langem schien mir der Postmodernismus mit Kritischer Theorie verbindbar zu sein. Er nimmt zwar nicht alle, aber doch gewichtige Motive und Versionen der Kritischen Theorie auf. Ich gehe sogar weiter und sage: Das zentrale Motiv des Postmodernismus, das Motiv einer mit grundsätzlichen Dissensen rechnenden Pluralität, muß das Kernmotiv von Kritischer Theorie heute bilden.

Ein erster positiver Effekt der Postmoderne-Diskussion bestand darin, ein allzu selbstsicher gewordenes Moderne-Bewußtsein aus seiner Lethargie wachzurütteln und zu den fälligen Klärungen zu bewegen. Das war ein Stück Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Der nächste Schritt könnte darin bestehen, der Moderne durch Rezeption der postmodernen Kritik diejenige Form einer „postmodernen Moderne“ zu geben, die sie in die Lage versetzte, ihre emanzipatorischen Potentiale ohne Kastration wieder wahrzunehmen und in nicht bloß halbierter Form zu realisieren. Zu diesem Zweck habe ich hier sowohl auf die Affinitäten von Moderne und Postmoderne hingewiesen als auch den entscheidenden Differenzpunkt benannt, dessen Einlösung ansteht: die Anerkennung inhaltlicher Grunddissense. Darin scheint mir bei aller Nähe noch immer genug Zündstoff und Widerstreit zu liegen.