Die Profis verlassen das sinkende Schiff

Polens Arbeiterbewegung gespalten/ Leitfiguren wandern ab/ Dissidenten in „Solidarność 80“ und im kommunistischen Gewerkschaftsverband  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Zbigniew Bulak gehört zu den populärsten Veteranen der polnischen Gewerkschaftsbewegung. Noch vor den Danziger Vereinbarungen gründete er, einer der jüngsten Aktivisten der Solidarność, ein Arbeiterkomitee in der Warschauer Textilfabrik Ursus. Als 1981 das Kriegsrecht eingeführt und Solidarność verboten wurde, tauchte er ab; bis 1986 konnte er sich verbergen und die Untergrundarbeit koordinieren.

Heute hat Bujak mit Gewerkschaftsarbeit nichts mehr am Hut; er ist Kleinunternehmer und Begründer der Bürgerbewegung Demokratische Alternative — und einer der Hauptgegner des Solidarność-Vorsitzenden Lech Walesa.

Dessen Gewerkschaft hat inzwischen noch mehr Köpfe vom Kaliber Bujaks verloren. Viele frühere Berater, Vorständler und Aktivisten sind in die Medien, in Regierungsämter oder politische Parteien gegangen. Bronislaw Geremek ist heute Abgeordneter, Tadeusz Mazowiecki, vordem Leiter des Gewerkschaftsorgans „Tygonik Solidarność“, Regierungschef.

Hunderte, wenn nicht Tausende ausgestiegener Gewerkschafter symbolisieren den Aderlaß der Bewegung. Auf ihrem jüngsten Kongreß in Danzig erwies sich, daß es statt der angeblichen zwei Millionen nur noch 1,8 Millionen gibt.

Tatsächlich fragen sich viele Arbeiter in Polen, warum sie einer Gewerkschaft angehören sollen, deren einzige Reaktion auf die Wirtschaftspolitik der Regierung Durchhalteparolen sind.

Walesa selbst geht in letzter Zeit auf Distanz zur Administration — doch andererseits ist die ja auch sein „Kind“, und allzu große Differenzen zwischen den beiden populärsten Figuren der polnischen Politik kommen bei den Massen nicht gut an. Solidarność übt sich darum seit Monaten in einer Strategie, nach der zwar Einzelmaßnahmen der Regierung kritisiert, gleichzeitig aber Streiks im Keim erstickt werden. Das führte im Mai während der Eisenbahnerstreiks zu harten Konflikten. Damals wurde klar, daß Solidarność die Lage in den Betrieben nicht mehr im Griff hat.

Die kommunistischen Gewerkschaften, vereinigt im Dachverband OPZZ mit dreimal so vielen Mitgliedern wie Solidarność, haben da weniger Bauchschmerzen. Ihr Chef Alfred Miodowicz muß keinerlei Rücksichten auf die Regierung nehmen und denunziert deren Wirtschaftspolitik als unsozial und arbeitnehmerfeindlich.

Reformen, so sein Credo, dürfen niemals auf Kosten der Werktätigen gehen, und so tritt er ungeniert gleichzeitig für Inflationsbekämpfung, Lohnerhöhungen und die Abschaffung der Bürokratie ein — und das alles ohne Arbeitslosigkeit.

Neben den „Großen“ macht sich mittlerweile auch eine Dissidentenbewegung bemerkbar, „Solidarność 80“, die sich um den Stettiner Marian Jurcyk sammelt und der Ansicht ist, Walesa habe, als er sich an den Runden Tisch setzte, Polen an die Kommunisten verraten. Doch obwohl die Dissidenten nichts mit den Kommunisten zu tun haben wollen, lehnen sie sich in ihrer Argumentation erstaunlich nahe an die OPZZ an. Walesa wirbt inzwischen um die Abspalter; in Lodz und Bydgoszoz hatte er damit Erfolg, die Gruppen bilden nun den radikalen Flügel von Solidarność. Ähnliche Manöver vollführt auch OPZZ-Chef Miodowicz. Auf seine Angebote haben aber bisher weder Walesa noch Jurcyk reagiert — beide fordern zuallererst eine Rückgabe jener Vermögen, die der Staat nach dem Verbot von Solidarność den OPZZ überschrieben hat.

Die Zerstrittenheit der Gewerkschaften kommt der Regierung zugute. Doch immer mehr Arbeiter und Angestellte fühlen sich mittlerweile von niemandem mehr vertreten. Damit wächst die Gefahr unkontrollierbarer Protestausbrüche. Eine Entwicklung, an der am Ende auch die Regierung kein Interesse haben kann.