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Das hat Marx nicht verdient

■ Sein Analyse-Werkzeug ist weiterhin nützlich EUROFACETTEN

Die Ereignisse der letzten Jahre haben eine derartige Dimension, daß die Wirklichkeit oft das Denken überholt. Imperien und Religionen (oder wenn man will: Philosophien) brechen zusammen, statt dessen tauchen Glaubenssätze und Ideen wieder auf, die man längst tot oder begraben glaubte.

Wenn sich Ereignisse derart überstürzen, verwirrt sich das Denken oft eher als sich zu klären, verarmt, statt reicher zu werden. Beim Auseinanderhalten dessen, was noch lebt und was tot ist, überzieht man leicht und verwirft mitunter das Ganze eines Denksystems, dessen Wert weit über momentane Umwälzungen hinausreicht. Etwa beim Marxismus. Natürlich kann man viele Marxisten nicht verstehen, wenn sie noch immer nicht begreifen, daß sie in eine historisch-philosophisch-religiöse Krise geraten sind, die man nicht mit lediglich politisch-programmatischen Lösungen überwinden kann, wenn diese nicht den aktuellen Grundfragen (woher und wohin) genügt. Doch noch schlimmer wäre eine Einbunkerung oder ein bloßer Rekurs auf die einstige — unzweifelhafte — Bedeutung des Kommunismus.

Sollen wir alleine deshalb nun nichts mehr mit dem Marxismus zu tun haben? Der Marxismus hat den Klassenkampf zur Hauptlinie seiner Geschichtsdeutung gemacht. Sollen wir dieses Prinzip aus unserem Denksystem streichen? Tatsächlich würden wir dann weniger denn mehr von gestern und auch von morgen verstehen.

Weiteres Beispiel: die Rückkehr des Privateigentums. Sicher: Sozialisierung und kommunistische Wirtschaftsform haben so viel Negatives produziert, daß ihre Schwierigkeiten durchaus verdient erscheinen. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß es keineswegs nur Sozialismus und Kommunismus waren, die zur immer stärkeren Präsenz des öffentlichen Sektors in der Wirtschaft geführt haben; es war ganz allgemein die historische Entwicklung der Zeit.

Anderes Beispiel: die „De-Legifikation“, der Abbau der Gesetzeswuste, die reglementierungssüchtige sozialistische Staaten aufgebaut haben. Sie ist in manchen Ländern tatsächlich ein Bedürfnis. Nur ist das Übermaß an Gesetzesausstoß aus einem konkreten Aspekt der modernen Gesellschaft entstanden, der Notwendigkeit, die Schwächsten zu schützen. Auch das sollte man nicht vergessen. Giuseppe Galasso

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