EUROFACETTEN: Kollaps der Ideologien
■ Doch Freiheit ist auch danach nicht ausgebrochen
Der Enthusiasmus, mit dem der Fall der „großen Ideologien“ im Namen der Objektivität nichtideologischer Markt-Mechanismen begrüßt wurden, erweist sich angesichts der Wirklichkeit als ziemlich brüchig. Drei Beispiele konterkarieren alle während der 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution getriebenen Lobpreisungen von Freiheit, von ungebundener Wahl der Lebensweise und der Gesellschaftsform: der Golfkrieg, die Ereignisse in der Sowjetunion, die Frage der Immigranten.
Im Golfkrieg stehen zweierlei Fronten: die der Industrie-Nationen insgesamt gegen die Rohstoffländer, und, als Folge, die der Rohstoffländer untereinander, etwa Irak und Saudiarabien. Der Hinweis auf den — tatsächlich erfolgten — Bruch des Völkerrechts durch Hussein — kommt dabei mächtig häufig; doch das ist bisher einmalig, und es dient auch lediglich einem rein imperialistischen Eingriff zwecks Kontrolle der Ölquellen: keine Spur von freiem Markt. Auf der anderen Seite vereinigt Hussein zwei Ideologien miteinander: die des Heiligen Krieges und die der Rechte der Araber (bzw. Des Südens im allgemeinen). Die Konstellation ist so, daß all die Verträge der Supermächte den Konflikt nicht aufhalten konnten — und daß nun plötzlich neue Ideologien zuhauf auftreten, just in dem Moment, wo sie angeblich alle zusammengebrochen sind.
Zweites Beispiel: die Sowjetunion. Da hatte man als absolut sicher angenommen, daß der „Kollaps des Reiches“ eine Blüte der Freiheit in Unabhängigkeit bewirken würde. Statt dessen können wir gerade noch hoffen, daß die Übereinkunft Gorbatschow-Jelzin zur Verteilung des nur in der Republik Rußland geförderten Erdöls und Goldes auf die ganze Sowjetunion führt; ansonsten zählen wir die Toten im Kaukasus, hören kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Armeniens vom Mord an einem Abgeordneten, erfahren, daß Nagorni Karabach außer Kontrolle ist. Wir müssen wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, daß man dort weniger für moderne Freiheiten kämpft als vielmehr überkommenen Prinzipien von Blut und Abstammung, völkischem und nationalistischen Denken anhängt.
Drittes Beispiel: der Krieg gegen die Einwanderer, wie er vor allem im Süden Europas stattfindet. Hatte man nicht vom freien Markt mit seinen Regulierungsmomenten gesprochen? Sollte er nicht zur Garantie für Demokratie und daher Freiheit werden? Statt dessen reichen bereits mäßige Wanderungsbewegungen von Arbeitssuchenden aus, um grauenhafte Konflikte auszulösen. Hier in Italien bringen rassistische Gruppierungen das gesamte politische System durcheinander, und im Gesamteuropa hat man den Eindruck, daß der heilige freie Markt doch unübersteigbare Mauern benötigt.
Oder soll die grenzenlose Freiheit nur fürs Kapital gelten, nicht aber für die Arbeiter? Vereint sich der Markt, ohne zu vereinen? Rossana Rossanda
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen