Zum Staunen fern

■ „Nachtsonne“ von Paolo und Vittorio Taviani

Ob sie wohl noch zu retten seien, die Brüder Taviani, fragten sich viele Kritiker angesichts dieses neuen Films. Und sonderbar ist die Geschichte — sehr frei gedreht nach Tolstois „Vater Sergej“ — tatsächlich:

Ein junger Mann sucht nach der Wahrheit, nach sich selbst und nach dem Sinn des Lebens. Aus Enttäuschung über eine Frau entsagt er allen, begibt sich als Eremit in die totale Einsamkeit, tut Wunder und bekehrt, wird abermals von Frauen in Versuchung geführt, vom Wallfahrtsrummel heimgesucht und läßt sich schließlich doch verführen von einem jungen Mädchen, geht darob ins Wasser, taucht wieder auf, zieht fortan unerkannt durch italienische Lande und ward nicht mehr gesehen. Das alles vor zweihundert Jahren im Königreich Neapel, wo Sergio, der Eremit, zunächst als Adjutant des Königs eine ruhmvolle Zukunft vor sich hat und dann von eben diesem König derart gedemütigt wird, daß er der Welt entflieht.

Eine Reise also zurück in die Vergangenheit und durchs Spirituell-Asketische; eine Reise, die von den Tavianis in Interviews als Ausdruck des zeitlosen Bedürfnisses nach Rückzug, Besinnung, gar Gebet erklärt wird. Als Suche nach Erkenntnis und nach Glück, fern von den anderen, fern der Welt.

So weit also wirklich recht sonderbar, denn diese Geschichte hat so gar nichts Modisch-Modernes, Säkulares, lebt vielmehr von einer seltsam naiven, zugleich aber unendlich ruhevollen, glaubhaften Gläubigkeit. Nichts Frömmlerisches, Religiöses hat der Film, nur etwas zum Staunen Fernes. Und wenn man es akzeptiert, das Ferne, Einsiedlerische dieses Films, dann ist er in seiner bildnerischen, erzählerischen Kraft und Klarheit zum Staunen schön.

Es sind die Bilder, die sich im Kopf festsetzen, die eigentümliche Spannung zwischen Askese der Geschichte und Sinnlichkeit im Bild. Die Handlung zu erzählen heißt, sie aus den Bildern herauszulösen, sie dem Gespinst aus Blicken, Gesten, Szenen zu entreißen, heißt, den Irrationalismus, den man den Tavianis zu Recht vorwerfen mag, ganz krude zu betonen. Und wenn man sich die Frauenrollen ansieht, kann einem wirklich bange werden: die erste (Nastassja Kinski), die ihn enttäuscht, war die Geliebte seines Königs; die zweite (Patricia Millardet) ist eine Hure, die ihn in seiner Eremitenklause verführen will, dann aber vor Bewunderung vor diesem Mann ins Kloster geht; die dritte gar (Charlotte Gainsbourg), die ihn verführt, ist nicht bei Trost. Die Frau also ist für den Mann in diesem Film nur böse oder hinderlich, erträglich bloß als Nonne. Und die Verführerin erscheint dem Eremiten Sergio — als was wohl? Ja: „als Teufel“.

Und doch klafft die Beschreibung dieses Frauenbilds und sein ästhetischer Ausdruck im Film weit auseinander: Während man vor der Leinwand sitzt, glaubt man der Intensität der Bilder, glaubt man ihrer Schönheit, ihrem Schmerz. Sie scheinen auf eine seltene Weise wahr. Zweifel an der Geschichte stellen sich später ein — dann allerdings haben sich auch die Bilder fest in den Kopf gesetzt und wirken in der Erinnerung, legen sich über die Zweifel an diesem Film. „Nachtsonne“ — der Widerspruch, der im Titel steckt, steckt auch im eigenen Kopf. Sybille Simon-Zülch

Gondel, 18 und 20.30.