: Das Narrenschiff, die Arche
Der australische Romancier Peter Carey erzählt die wahren Lügen-Geschichten — so hinreißend, daß man ihm alles abkaufen möchte ■ Von Edgar Peinelt
Ich bin ein schrecklicher Lügner, und ich bin immer schon Lügner gewesen... wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Versuchen Sie nicht, Lüge und Wahrheit zu trennen, sondern entspannen Sie sich und genießen Sie die Show.“
Gleich auf der ersten Seite wird dem Leser dieses zweifelhafte Angebot gemacht — von Herbert Badgery, dem (angeblich) Hundertneununddreißigjährigen, der vorgibt, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er ist der „Illywhacker“, ein altes Schlitzohr, ein Parvenü und Bauernfänger, Hauptdarsteller in Peter Careys gleichnamigen Roman.
Natürlich ist auch die treuherzige Warnung an den Leser eine Lüge. Peter Carey hat eine Menge Wahrheiten zu berichten — zum Beispiel über Australien, den Kontinent, in dem er lebt. Man muß die Lügengeschichten so ernst nehmen wie einst Mark Twain: „Die australische Geschichte... liest sich wie eine Ansammlung der wunderbarsten Lügen, aber es sind alles frische, neue Lügen... es ist alles wahr, es ist alles passiert.“
Kein Wunder: „Die ganze Nation ist auf eine Lüge gegründet, die Lüge nämlich, daß dieses Land unbewohnt war, als die Engländer hierherkamen.“ Das muß sich Mr. Badgery von seiner Geliebten Leah Goldstein stecken lassen, einer jüdischen Kommunistin, die sich aus einem anständigen kleinbürgerlichen Milieu davongemacht hat, um endlich mit Vogel- und Schlangentänzen in der Provinz keinen Erfolg zu haben.
Badgery hatte bloß wieder einmal eine Hütte bauen, ein Heim gründen wollen, — und er bekommt gleich eine Wahrheit verpasst: „Du glaubst, du brauchst dir nur irgendeine Bude hinstellen, und schon hast du ein Zuhause, aber das kannst du nicht, und es wird nie dein Zuhause sein.“
Peter Careys tragikkomischer Held bemüht sich unablässig, einen Ort zu besetzen, auch wenn es nicht der seine ist, wenn schon die anderen da waren und immer andere nachkommen, um seinen Platz einzunehmen. Aber es geht darum, „eine Frau, ein Haus und einen Plan“ zu haben, bei sich und zu Hause zu sein, und am Ende erklärt er gar, sein Leben lang sei er mißverstanden worden: „Ich wollte bloß ein Kaminfeuer und Pantoffeln.“
Auch nicht ganz wahr: Es gab ja zum Glück immer „die Lügen, die leicht aufstiegen, wie Träume“. Man möchte doch, und sei es unwissentlich, etwas Neues, etwas anderes, sich aufschwingen wie ein Vogel, ins Blaue verschwinden.
In Careys Kurzgeschichte Traumflug (1974) träumt einer vom Fliegenkönnen — und seine Geliebte sagt: „Es ist eine fixe Idee, all das Gerede über das Fliegen und die Vögel. Ich glaube, du bist einfach unglücklich.“ Er entgegnet: „Ich wäre glücklich, wenn ich fliegen könnte.“ Diese Geschichte geht gut aus: Er baut etwas, „worin man fliegen kann“ — auch für den Hund ist noch Platz — das Glück scheint machbar.
Herbert Badgery schwebt ein in seine Geschichte in einem (defekten) Flugapparat, wir schreiben das Jahr 1919. Kaum steht er mit beiden Beinen auf dem Boden, fängt er auch schon eine Schlange ein und macht sich mit Phoebe bekannt, der künftigen Mutter seiner Kinder — indem er eine Lügengeschichte erzählt. Schlangen und Vögel durchkriechen und durchziehen den ganzen Roman, eine metaphorische Spur fast bis zur letzten Zeile: Schlangen, die sich durchwinden, häuten und tarnen können, erdnah, aber auch beunruhigend, und die Vögel am australischen Himmel, farbenprächtige, seltene und begehrenswerte Arten. Herbert Badgery würde all die Wildheit und Exotik gerne domestizieren (und seine Nachfahren sind darin erfolgreicher als er). Doch kaum glaubt er, sich an einem schönen Exemplar im Käfig erfreuen zu können, verliert es sogleich seinen Reiz, und will nur wieder hinaus. So verläßt ihn seine Frau Phoebe: Sie nimmt das Flugzeug mit und läßt die Kinder zurück.
Etwas aufbauen, sich aus dem unzivilisierten Durcheinander in eine anständige Identität retten, in eine bürgerliche Existenz und — warum nicht — in eine nationale Gemeinschaft: Badgery ist zum Beispiel auch ein glühender Verfechter des rein australischen Automobils und der australischen Flugzeugproduktion (und damit, nebenbei, schon wieder begeistert von Mobilität und Aufbruch). Aber hatte nicht schon sein Vater (der versuchte, britische Kanonen an die Schafzüchter zu verkaufen) bei jeder Gelegenheit betont, er sei Engländer (gelogen!)? Und wird nicht der kleine Herbert, nachdem er seinen Papa auf ganz perfide Art verlassen hat, ausgerechnet von einem Chinesen adoptiert, der ihm — was sonst — beibringt, wie man sich unsichtbar macht? Die alten Tanten aus den besseren Kreisen kann Herbert sowieso nicht täuschen: „Mein Gentleman- Gang beeindruckte Mrs. Kentwell überhaupt nicht. Sie stand hinter dem Gartenzaun, musterte mich und kam zu dem Schluß, ich sei ein Gauner und Prolet.“ Also doch ein vaterlandsloser Geselle.
Am Ende erweisen sich die amerikanischen Träume von Machbarkeit und Käuflichkeit als übermächtig: Badgerys Sohn verkauft erst die australische Fauna und dann das Geschäft an die Amerikaner, und der Enkel alliiert sich mit dem japanischen Kapital, um den ganzen australischen Zoo zu vermarkten — einschließlich der aussterbenden Arten, zu denen zuletzt auch der ungebärdige Illywhacker gehört.
Von amerikanischen Träumen und Lügengeschichten, von der Suche nach dem Ort, an dem man zu sich kommen kann, handelt auch Careys erster Roman Bliss (1981). Sein Protagonist Harry Joy ist ein richtig „netter Bursche“: Er nennt eine anständige Familie und eine gutgehende Werbeagentur in der Kleinstadt sein eigen (da kennt sich Carey aus, er leitet selber so eine Firma).
Harry Joy fällt aus dieser banalen Welt und in die erzählenswerte Geschichte, weil ihn ein Herzinfarkt trifft. Neun Minuten ist er klinisch tot — und er hat eine Vision: Er sieht sich von oben und außen und zwischen Himmel und Hölle. Als er nach einer Operation erwacht, scheint es ihm wahrscheinlich, daß er in der Hölle gelandet ist. Nun will er herausfinden, ob die Annahme stimmt — ein radikaler Perspektivwechsel, mit weitreichenden Folgen.
Harry Joy erkennt, daß seine Frau besessen ist von amerikanischen Werbebildern und ihn mit seinem Geschäftspartner betrügt, einem mediokren Amerikaner, der geschmacklose Schlipse trägt; sein Sohn ist ein geldgeiler Opportunist, er verkauft Drogen und träumt von einer Karriere als Glücksritter in Südamerika; Harrys Tochter ist ein Drop-out, sie schwankt noch, ob sie die Weltrevolution oder den Weltuntergang faszinierender finden soll. Und Harrys Agentur wirbt für Schund, der auch noch Krebs erzeugt.
Das ist die Hölle — Harry Joy versucht, sich zurechtzufinden: Wer gehört zu den Insassen, wer zum Personal, und wer ist eigentlich für den Laden verantwortlich? Keine leichte Aufgabe, aber Harry glaubt, man könne sich wieder hocharbeiten — zum Beispiel indem man „Gutes“ tut. Neue bizarre Verwicklungen, und der Held der Geschichte landet vorübergehend in der Nervenklinik. Aber er trifft auch auf seine Retterin: Honey Barbara, die einmal im Jahr aus der Hippie-Landkommune in die Stadt einfährt wie ins Fegefeuer, um durch Huren und Dealen die Kasse zu füllen, aus der das gute, saubere Leben bezahlt wird. Honey Barbara kennt sich schon aus in der Unterwelt, und ihre Ratschläge werden Harry am Ende in eine Art Paradies führen. Aber bis dahin ist es noch ein krummer Weg; und selbstverständlich verzichtet Peter Carey nicht darauf, seine „Message“, daß wir uns das Leben selber zur Hölle machen, in Geschichten zu wickeln wie in Seidenpapier.
Geschichten retten auch Harry Joy. Bei den örtlichen Cops, die ihn aufgreifen, als er in einem zertrümmerten Kleinwagen daherkommt, Haschisch in der Jacke und Alkohol im Blut, erntet er mit der (wahren) Geschichte vom Zirkuselefanten und vom krebskranken, drogensüchtigen Restaurantbesitzer nur müdes Grinsen: „Wir haben schon so viele Geschichten gehört, Harold. Erzähl' uns doch mal was wirklich Neues.“ Und Harry, mit „einer Stimme wie Celloklang an einem grauen Nachmittag“, erzählt aus dem Stegreif eine Gute-Nacht-Geschichte: vom kleinen Tisch, der immer eins auf die Ohren kriegt, und am Ende doch ein wundersam sicheres Plätzchen findet. „Die beiden Polizisten sahen aus wie Leute im Kino, wenn das Licht wieder angeht“ — und sie lassen ihn laufen.
Und am Ende, als die Landkommune diskutiert, ob Harry dort selig werden darf, geht der Disput so: „Er will bloß seinen Hals retten. Er glaubt an nichts.“ „Aber er kennt gute Geschichten.“ „Die sind von seinem Vater. Sogar seine Geschichten hat er geklaut.“ „Das macht nichts, solange er sie gern erzählt...“
Die Geschichten gehören allen, sie retten und trösten, darum muß man sie immer weitererzählen. „Mir blieb gar nichts anderes übrig, als aus mir einen Schriftsteller zu machen. Es war der einzige Plan, den ich verwirklichen konnte“, bekennt Herbert Badgery, und seine Gefährtin Leah, die ihm jahrelang Lügenbriefe ins Gefängnis geschickt hat, weil ihm die traurige Wahrheit doch nichts geholfen hätte, schreibt schließlich, im gleichen Geiste, Kolportageromane — bis man „ihren Lügenbuckel sah: die Schwiele an der Stelle, wo der HB- Bleistift gegen ihren Finger drückte.“
Mit den drei Romanen Oscar und Lucinda, Illywhacker und Bliss hat Peter Carey einen Bilderbogen aus der Geschichte Australiens von der Kolonisierung bis in die Gegenwart entfaltet — vielleicht, um dem Defizit abzuhelfen, das im Illywhacker genannt wird: „Hier hat es nie eine Geschichte gegeben. Dieses Land ist aufgewacht wie ein Baby und mußte alles selbst herausfinden.“
Von Peter Carey sind erschienen:
„Illiwhacker“, übersetzt von Dirk van Gunsteren, Verlag Klett- Cotta, 688 Seiten, 44 DM
„Traumflug“, übertragen von Nikolaus Stingel, Wunderlich Verlag, 1982, nicht mehr lieferbar
„Bliss. Das Paradies umsonst“, übersetzt von Charlotte Frauke, rororo, 14,80 DM.
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