Kindesmißbrauch: Schneid' dir nicht die Pulsadern auf

■ Neue Veröffentlichungen zum Thema Gewalt gegen Kinder/ Verdienstvoller Hinweis, daß auch Jungens mißbraucht werden

Ein großer Teil der in den vergangenen Jahren erschienen Literatur über sexuellen Kindesmißbrauch dokumentiert die verheerenden Wirkungen solcher Handlungen und beschreibt ausführlich die „Tragödie verpfuschter Leben“, sagt aber sehr wenig über eine mögliche Genesung. Nun sind erstmals zwei Handbücher über sexuelle Gewalt erschienen.

„Lauf nicht davor weg. Vergrabe es nicht. (...) Schneide dir nicht die Pulsadern auf. Packe das einfach an, denn es kommt sowieso immer wieder, wenn du weiterlebst. Es tut weh, aber du mußt weitermachen.“ Die 28jährige Soledat wurde als Kind sexuell mißbraucht. Soledat ist eine von 200 „Überlebenden“, die von Ellen Bass und Laura Davis für ihr Buch Trotz allem — Wege zur Selbstheilung für sexuell mißbrauchte Frauen interviewt wurden. Bass und Davis nennen die betroffenen Frauen ganz bewußt „Überlebende“. Diese Bezeichnung kommt ihrer Meinung nach dem Schrecken des Mißbrauchs für das Leben eines Menschen am nächsten.

In diesem Buch dreht es sich in erster Linie um das Genesen von den Folgen sexueller Gewalt: Was ist dazu nötig, wie fühlt sich die Frau dabei, und wie kann das Gesundwerden ihr Leben verändern. Die beiden US- amerikanischen Autorinnen glauben nicht an den Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“. „Wenn du bereit bis, hart zu arbeiten, wenn du entschlossen bist, dauerhafte Veränderungen in deinem Leben durchzuführen, wenn du es schaffst, Menschen, die dir wirklich helfen sowie eine gute Therapie zu finden, kannst du nicht nur heilen, sondern wirklich glücklich werden. Wir glauben an Wunder und an harte Arbeit.“

„Überlebenden“ wird eine Karte mitgegeben

Ellen Bass arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sind. So beruht auch nichts von dem, was in Trotz allem zum Tragen kommt, auf psychologischen Theorien. Vorschläge, Übungen, Analysen und Schlußfolgerungen stammen aus Erfahrungen von Betroffenen.

Laura Davis, Rundfunkredakteurin und Schriftstellerin, mußte sich selbst mit den Folgen sexuellen Mißbrauchs auseinandersetzen, und das hat sich in den einfühlsamen Formulierungen des Buches sichtbar niedergeschlagen. Die beiden Autorinnen geben „Überlebenden“ eine Karte mit auf den Weg. Ihrer Meinung nach ist die Heilung von den Verletzungen des Mißbrauchs kein zufälliger Prozeß. Es gibt Stadien, die offensichtlich alle durchmachen, dies sind zum Beispiel die Zweifel, ob der Mißbrauch wirklich geschehen ist, die Konfrontation mit dem Täter und der Familie oder das Verändern selbstbehindernder Verhaltensmuster.

Für jede Situation gibt es Hilfestellungen, aber auch Hinweise für FreundInnen, PartnerInnen, Familienangehörige, BeraterInnen und TherapeutInnen. In erster Linie ist dieses Buch jedoch den Betroffenen selbst gewidmet. Und das unterscheidet es von den meisten anderen Büchern zu sexuellem Mißbrauch. Ellen Bass, Laura Davis und alle Frauen, die in Trotz allem zu Wort kommen, machen Mut und zeigen, daß Frauen die Folgen des sexuellen Mißbrauchs bewältigen können.

Eine andere Neuerscheinung zum Thema sexueller Kindesmißbrauch ist Zart war ich, bitter war's. Dabei handelt es sich um das erste Buch, das ausführlich über sexuellen Mißbrauch von Mädchen und Jungen in der Bundesrepublik berichtet. 15 AutorInnen, überwiegend aus pädagogisch-psychologischen Berufen, geben praktische Hinweise und Informationen darüber, wie Eltern, Pädagogen, Ärzte, Psychologen Kinder vor Mißbrauch schützen oder bereits betroffenen Kindern helfen können. Dazu gehören Fragen und Bereiche wie: Was tun, wenn ich sexuellen Mißbrauch vermute, wie verraten sich Täter.

Gleich zu Beginn des Buches wird darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, bei sexuellem Mißbrauch parteilich für Kinder zu arbeiten: „Der Täter muß klar mit seiner Tat konfrontiert werden. Das betroffene Kind braucht hingegen Stärkung und Hilfe, um die Scham und die Verletzung überhaupt überwinden zu können.“ Denn die Kraft, dem Mißbrauch etwas entgegenzusetzen, erwächst nicht aus sich selbst. Kinder brauchen Energiequellen und die Unterstützung von Menschen, die sie ernstnehmen und ihnen ihr Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung vermitteln. Zart war ich... distanziert sich klar von der Annahme, sexueller Mißbrauch sei allein ein Problem der Familie. Diese Vorstellung verstelle den Blick darauf, daß der Mißbrauch auch in öffentlichen Institutionen wie Heimen, Krankenhäusern und Schulen an der Tagesordnung ist. Für die AutorInnen dreht es sich bei sexueller Gewalt um die Befriedigung männlicher Dominanzbedürfnisse, die auch durch die familientherapeutische Ursachenanalyse und Therapiemethode nicht zu behebensind.

Jungens reagieren anders als Mädchen

Das Buch wird zwar als Handbuch angeboten, ist aber bei weitem nicht so praxisbezogen, übersichtlich und anwendungsfreundlich wie das Buch der amerikanischen Kolleginnen Bass und Davis. Zart war ich, bitter war's richtet sich vielmehr an professionelle HelferInnen. Dies zeigt sich in einer Sprache, die trotz auflockernder Fallbeispiele theoretisch-distanziert bleibt. Hilfreich sind die zahlreichen Literaturhinweise jeweils im Anschluß an die verschiedenen Kapitel. Erfreulich ist, daß auch der sexuelle Mißbrauch von Jungens thematisiert wird, obwohl dieser oft zu unreflektiert auf die Situation von Mädchen übertragen wird.

Die eingeschränkte Sicht, nur Mädchen könnten Opfer von sexueller Gewalt werden, verändert sich zunehmend. Niederschlag findet das in einer weiteren Neuerscheinung zu diesem Thema: Verlorene Kindheit. Die Autorinnen Nele Glöer und Irmgard Schmiedskamp-Böhler wollen dazu beitragen, daß die Tatsache nicht länger verschwiegen wird, daß auch Jungen Opfer sexueller Handlungen werden. In sieben Fallbeispielen wird deutlich, daß bei Mädchen und Jungen zwar der Schmerz über erlittenen Mißbrauch gleich groß ist, Jungens aber aufgrund ihrer anderen Sozialisation auch andere Symptome zeigen als Mädchen und andere Konsequenzen für ihr Verhalten, ihr weiteres Leben ziehen. Martina Burandt

Ellen Bass/Laura Davis: Trotz allem, Wege zur Selbstheilung für sexuell mißbrauchte Frauen. Orlanda Frauenverlag, Berlin, DM 48,00. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit Donna Vita.

Ursula Enders (Hrsg.): Zart war ich, bitter war's, Sexueller Mißbrauch an Mädchen und Jungen. Volksblatt Verlag, Köln, DM 39,80.

Nele Glöer/Irmgard Schmiedeskamp-Böhler: Verlorene Kindheit, Jungen als Opfer sexueller Gewalt. Weismann Verlag, München.