„Kein Selbstbestimmungsrecht für Deutsche“

■ ...fordern sich zur Linken zählende Autoren in der Veröffentlichung „Gemeinsam sind wir unausstehlich“/ Metaphysische Grübeleien über das deutsche Wesen/ Die Vorstellung von der deutschen Einheit löst lähmendes Entsetzen aus

Zum Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Osteuropa und der UdSSR hat die Linke bislang kaum ernstzunehmende Reaktionen hervorgebracht. Immer noch ist die Revolution im kollektiven Unbewußten der orientierende Punkt für praktische Politik. Doch jenseits dessen, daß die Alternative zum kapitalistischen Modell sich plötzlich als nicht existent erweist, gibt es für die radikale Linke in der BRD eine nicht weniger erschreckende und vor Entsetzenden lähmende Vorstellung: die unvermeidliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

Klaus Bittermann hat dazu in einem Band seiner Reihe Critica diabolis Beiträge von Autoren aus dem Umkreis der Hamburger Zeitschrift 'konkret‘ versammelt. Schon der Titel Gemeinsam sind wir unausstehlich räumt jedes Mißverständnis über ein wiedervereinigtes Deutschland aus. Den Deutschen ist zutiefst zu mißtrauen, das ist der Tenor der linksradikalen Wiedervereinigungsgegnerschaft.

Wiedervereinigung ist höchst gefährlich

Nun hat sich die Linke immer schon schwergetan mit der deutschen Geschichte. Nicht zuletzt war es die Erfahrung des Nationalsozialismus, die Mißtrauen hinsichtlich des politischen Charakters der Deutschen erzeugte. Stefan Gandler behauptet deshalb in seinem Beitrag Was passiert in Alemania?, „daß das, was den Nationalsozialismus möglich gemacht hat, (...) nicht einfach aus den Köpfen der Menschen und der ideologischen Basis der alemanischen Gesellschaft verschwunden ist“.

Mithin: Die deutsche Wiedervereinigung ist höchst gefährlich, weil die faschistische Disposition noch in allen steckt, und die ja bekanntlich in die Katastrophe geführt hat. Ratlosigkeit und tiefstes Mißtrauen sind die Reaktionsformen der Autoren und der radikalen Linken gegenüber einem nicht mehr umkehrbaren Prozeß. Es scheint, je aussichtsloser ein Eingreifen der Linken ist, desto unreflektierter und pauschaler wird der Argwohn. Wolfgang Pohrt gerät deshalb in metaphysische Grübeleien über das deutsche „Wesen“, dessen beherrschender Zug „Selbstdestruktivität“ sei, „weil sie (die Deutschen R.S.) nicht ruhen können, ,bis alles in Scherben liegt‘“. „Sein Wesen — von Hitler exemplarisch verkörpert — ist es, jeden möglichen Gewinn unmittelbar wieder aufs Spiel zu setzen, weil die Deutschen die vermeintlich von ihnen ersehnte Nation eigentlich nicht wollen und unfähig wären, den erworbenen Besitz in Frieden zu genießen“.

Was ist zu tun mit einem Deutschland, das die Autoren als Krisenherd in Europa und als „unberechenbares Gebilde“ vorhersagen? Auch dafür haben die Autoren ein Rezept bereit, das wenig mit linker emanzipatorischer Politik zu tun hat: Der Delinquent, dessen bösartiger Charakter diagnostiziert wurde, wird unter vormundschaft zu stellen sein. „Die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf Alemania“ darf nicht geschehen.

Dies ist auch Charlotte Wiedemanns Empfehlung zu der von ihr beobachteten grünen „Hinwendung zum deutsch-nationalen Gedankengut“: „den Deutschen möglichst wenig Souveränität einzuräumen“. Auf derselben Ebene politischer Analytik ist auch ihr Vorschlag angesiedelt, die Ereignisse in der DDR als „umgekehrten Kolonialkrieg“ zu verstehen, bei dem das kapitalistische Ausland BRD die Macht übernimmt.

Auch dort, wo Kritik angebracht ist, an der Politik des 'Spiegel‘ und seines Herausgebers, schießt das Buch übers Ziel hinaus. Wolfgang Schneider stellt in seinem Beitrag Auch 33 schon Rudolf Augstein als verkappten Nazi dar, dessen Anliegen seit Gründung des 'Spiegel‘ es gewesen sei, das Vierte Reich in der Tradition des Dritten wiederherzustellen. „Denn daß die Deutschen in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts ihre Nachbarländer überfallen und die Juden in die Gaskammern getrieben haben, hindert sie schließlich keineswegs daran, dieses ,Selbstbestimmungsrecht‘, wie schon nach dem 1.Weltkrieg, auch heute wieder als Prinzip, das absolut gelte, als Superlativ demokratischer Entscheidungsfindung, jedenfalls als ein Recht, das ihnen unbedingt wieder zustehe, zu propagieren.“

Verachtung für die Bevölkerung

Man kann Augstein viel vorwerfen, doch ihm zu unterstellen, er wolle das Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen, um deutsche Machtpolitik wieder möglich zu machen und andere Völker zu überfallen, ist plump und unergiebig.

Auch Klaus Bittermanns Aufsatz über die Walserisierung der Intellektuellen sieht die Dichter (Walser, Grass und Co.) als Wegbereiter des völkischen Aufbruchs. Gleichzeitig werden die Intellektuellen verdächtigt, mit dem „dummen Volk“ fraternisieren und ein Gemeinschaftsgefühl herstellen zu wollen.

Der Vollständigkeit halber wird Habermas' Verfassungspatriotismus zum völkischen Gemeinschaftsgefühl hinzugerechnet. Wurde anfänglich, in der ersten Euphorie, von Karl- Heinz Bohrer und anderen zu begründen versucht, warum wir eine Nation werden sollen, so ist jetzt festzustellen, daß der reale Vereinigungsprozeß ganz ohne nationale Argumentationsmuster auszukommen scheint. Vielmehr hat sich die Euphorie in eine Kosten-Nutzen-Analyse verwandelt.

Die Aufsätze sind Dokument einer Hilf-und Begriffslosigkeit, die sich paart mit einer Verachtung für die Bevölkerung der osteuropäischen Staaten. Sie wird „als gierig ellbogenstoßende und geifernd-gesichtslose Masse ohne eigene Subjektivität“ von Robert Kurz in seinem Betrag beschrieben. Die Linken trauen dem eigenen Volk nicht über den Weg. „Hündisch nur nach anderen Herren schielend“ und noch nicht „einmal einen einzigen Generalstreik“ zustandegebracht zu haben. Dieser Befund ist das Ergebnis resignierender Ohnmacht, der nur noch als Zynismus zur Selbststabilisierung dienen kann.

Bei so viel „völkischem Gemeinschaftsgestammel“ (Bittermann) bleibt den Autoren nur noch der Rückzug auf das apokalyptische Bewußtsein, die Hoffnung, daß die Wiedervereinigung die Weltmarktkrise beschleunige. Robert Kurz sieht denn auch nicht Großdeutschland als Viertes Reich, sondern als Endpunkt der „nicht mehr weiter zu entwickelnden bürgerlichen Welt“ und der „Moderne“ insgesamt. Denn das Haus, in das die osteuropäischen Staaten Zutritt suchen, sieht er längst „in hellen Flammen stehen“. Was aber danach kommen soll, verschweigt er, sicherlich nicht die Postmoderne.

Apokalyptisches Bewußtsein statt politischer Reflexion bestimmt auch den Beitrag von Roger Willemsen über Richard von Weizsäcker. Vieles könnte man zum Stil des Bundespräsidenten anmerken, aber gerade, daß er der Herold der andauernden Katastrophe sei, ist am allerwenigsten einsichtig. Da geht die apokalyptische Fabulierlust im Benjaminschen Ton mit dem Autor durch: „Weizsäcker ist Teil der Katastrophe selbst, er ist Rösner, denn er redet mit der Pistole am Kopf seines Gegenübers, mit der Macht, nicht nur nichts zu tun, um sie abzuwenden, sondern auch auf massenhaft vorbildliche Weise nichts zu tun. So, mit seinem Amt an und in unserem Kopf, ist er der erste Geiselnehmer für seinen Staat — und das nicht zuletzt kraft seiner Bereitschaft zu Reformen.“

An anderer Stelle wird der Leser von Bittermann belehrt, daß die Normalität die Katastrophe sei. Der Vorwurf, daß Weizsäcker Ästhetisierung der Politik Bewußtsein verhindere, trifft umgekehrt das ganze Buch: apokalyptische (diabolische) Kritik zersetzt und ersetzt die politische Reflexion, die die Linke, so sie denn weiter existieren will, bitter nötig hat. Rudolf Speth

Klaus Bittermann (Hrsg.): Gemeinsam sind wir unausstehlich — Die Wiedervereinigung und ihre Folgen. Berlin 1990, DM 20,-