Alles spricht für Scorsese

■ In Venedig werden die Löwen vergeben

Die Zeitungen und das Festival in Venedig veröffentlichen täglich den neuesten Stand in Sachen Zuschauergunst und Kritikergeschmack. Auf beiden Punkte-Tabellen steht Scorseses Mafia-Film Goodfellas ganz oben. Dann folgt bei den Kritikern James Ivorys Mr. und Mrs. Bridge. Die Zuschauer mochten Jiri Weiss' kitschig-menschelnde Martha und ich am zweitliebsten, vielleicht weil Marianne Sägebrecht als Dienstmädchen wie eine italienische Mamma aussieht und weil die Untertitel die Dialoge weniger peinlich wirken lassen.

Juryvorsitzender ist der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal. Vidal ist Hollywood-Fan: „Die einzige Sache aus den USA, an die man sich in tausend Jahren noch erinnern wird — falls es dann noch Menschen auf der Erde gibt.“ Er mag Woody Allen und Fellini, deshalb wird er Joanne Woodward und Paul Newman als altes Ehepaar Robert de Niro und Ray Liotta als kleine Mafiosi wohl vorziehen. Aber er mag auch die Zucker-Brüder und David Lynch und ist mit seinen diversen Häusern in Italien selbst so etwas wie ein Italo-Amerikaner. Also vielleicht doch Scorsese. Aber die Jury könnte sich auch gegen Ivory und Scorsese, die beiden besten Filme des Wettbewerbs, entscheiden. Die Vorherrschaft der Amerikaner wurde in Venedig schon immer bekämpft. Zwar waren die Amerikaner diesmal präsent wie nie zuvor, aber Venedig hat die Tradition eines Festivals des Autorenfilms. Louis Malle bekam hier einen Goldenen Löwen, ebenso Eric Rohmer; auch die Festivaleröffnung mit Trottas L'Africaine war programmatisch zu verstehen. Im diesjährigen Wettbewerb hätten dann am ehesten die Frauen eine Chance: die Französin Claire Denis mit S'en fout la mort oder die Neuseeländerin Jane Campion mit An angel at my table, einer dreistündigen Trilogie über die neuseeländische Dichterin Janet Frame, die lange als schizophren galt, in der Psychiatrie mißhandelt wurde und heute eine berühmte Dichterin ist — ein Film voller liebevoll inszenierter Details. Leider ein wenig zu liebevoll. Da die 47. Biennale als Festival der Frauen apostrophiert wird (in Wahrheit sind nur sechs der 32 Filme im Hauptprogramm von Regisseurinnen gedreht), und da die Hälfte der Jury aus Frauen besteht, könnte Vidal überstimmt werden. Oder der Goldene Löwe geht an einen Außenseiter, wie im letzten Jahr an Hou Hsiao Hsiens Stadt der Trauer. Der langweiligste Wettbewerbsfilm kam diesmal aus Indien, Ador Gopalakrishnans Die Mauer: ein berühmter Schriftsteller und Freiheitskämpfer wird inhaftiert. Es geht um seine Einsamkeit. Viele Kritiker mögen es, wenn auf der Leinwand nichts geschieht. Eine Entscheidung für Die Mauer wäre pure Feigheit. Christiane Peitz