„Am 3. Oktober ist das Licht aus“

Fast 1.000 Mitarbeiter in der Volkskammer, im Haus der Parlamentarier und im Palast der Republik, die die Rädchen der Zentrale der Noch-DDR schmierten, bangen um ihren Job  ■ Von Petra Brändle

Unscheinbar-beflissen steht er rechts neben der Eingangstür; zuständig für die mittlerweile spärlich gewordenen Besucher, die eventuell den Weg ins Spreekabarett, dem Jugendtreff im Keller, oder ins Theater im Palast der Republik nicht finden. Ist eine Volkskammersitzung anberaumt, hat der 49jährige Klaus S. mehr zu tun: Er geleitet die angemeldeten Zuhörer auf ihre Plätze. In seiner korrekten blauen Uniform erinnert er an die ehrwürdigen und Respekt einflößenden Kollegen im „House of Parliament“ an der Themse. Doch deren Arbeitsplatz ist sicher. Wenn jedoch die 144 Abgeordneten der Volkskammer am 3. Oktober von der Spree an den Rhein ziehen, bleibt ihm nichts zu tun.

Die 0-Stunden-Woche steht für ihn und 150 Kollegen im Palast an. 64 Prozent des letzten Nettolohnes — schon erheblich weniger als früher — bleiben ihm als Alleinstehenden bis zum Jahresende. Zu Sylvester endet das noch gar nicht so lange bestehende Arbeitsverhältnis. Aber irgendwas werde er schon finden, müsse er ja. Nur den Optimismus nicht verlieren, redet er sich zu. Viel Energie steckt allerdings nicht in dem hilflosen Achselzucken. Trotz, oder gerade wegen seiner Erfahrung im Wachdienst und Objektschutz? Jedenfalls hält er mit seiner Arbeit als „OibE“ bei der Stasi im Lebenslauf nicht hinterm Berg. Verheimlichen ließe sich es ohnehin nicht.

Doch nicht nur die Parlamentsdiener sind mit dem neuen „Tag der deutschen Einheit“ arbeitslos. „Ab da ist in der ganzen Volkskammer das Licht aus“. Die Pressereferentin Richter in der Volkskammer kann nicht mit genauen Zahlen helfen, denn seit der Wahl am 18. März wurde der Mitarbeiterstamm des Spiegelkastens unter den Linden noch einmal aufgestockt. Insgesamt aber verlieren bestimmt 1.000 Menschen ihren Job, die die Rädchen der Zentrale der Noch-DDR — also der Volkskammer und dem Haus der Parlamentarier — täglich schmieren. Für den Kraftfahrer über die Köchin bis zur Sekretärin in der Personalabteilung, die sich an die Auskunftspflicht gegenüber Medien noch nicht gewöhnt hat, bis zum Pressesprecher sieht die Zukunft „so trübe und regnerisch aus wie der heutige Tag“. Pressesprecher Thus ist derzeit jedoch mit Überstunden so beschäftigt, daß er noch keine Minute über seine Zukunft brüten konnte.

Mehr Zeit hatten offenbar die Mannen des Objektschutzes, die die hohe Kunst des Abwimmelns und Weiterleitens aus dem Effeff beherrschen, bis die Genarrten nach etlichen Fußmärschen über den Platz zwischen der Volkskammer und dem Haus der Parlamentarier doch wieder bei ihnen eintreffen. Geschniegelt sitzen sie auf ihren Plätzen - teils nervös, teils lethargisch. Können ist Können. Der Enddreißiger zupft am Schnautzer und feixt. Objektschützer braucht man immer; die Vergangenheit und die damit verknüpfte Gesinnung ist längst unter dem dichten Schleier des Nichtwissens verborgen. SED-Mitgliedschaft — iwo! Gerade noch, daß er nicht fragt, was das denn sei, so schaut er mich an. Sie wählen die CDU, denn „die ist loyaler als die SPD, die hier sowieso gleich alles kaputtgeschlagen hätte“. Und sie bauen auf eine Stelle in Bonn (bei der der Bundestagspräsidentin unterstellten unabhängigen Schutztruppe) oder einer Bank. Kein Problem. So sieht es auch der Leiter der Personalstelle im angrenzenden Palast der Republik, der Kulturtempel Ostberlins. Gert-Dietmar Sonk, einer der 20 aus der Direktoren-Riege für die 1.700 Mitarbeiter, weiß um die unsichere Zukunft des Hauses, seinen Stuhl hält er jedoch für „einigungssicher“. Die großen Herren scheinen meilenweit von den Problemen ihrer Angestellten entfernt zu sein. Ob Klo- oder Garderobenfrau, Barkeeper oder Bedienung, Koch oder Theaterbeleuchter - sie alle stimmen in die Elegie ein: „Wir dämmern so vor uns hin“. Kein Zweifel, im Palast der Republik herrscht lähmende Stimmung. Gedämpft-melancholisch unterstreicht Marianne Faithfull aus dem Lautsprecher die Stimmung. Im „Spreekabarett“, dem Jugendtreff und Restaurant im Keller, verliert sich eine einzige Restaurantbesucherin, die lustlos in ihrem Salat stochert. Langeweile für die Bedienung Sabine und ihre KollegInnen in der Küche. Bernd H., der Barkeeper, steht sich vier Stockwerke höher die Beine in den Bauch. Bis Januar war um die Mittagszeit hier die Hölle los. Gin-Tonic zu 10 Pfennig im Schwarztausch und Schweißperlen auf der Stirn — lang ist es her. Trinkgeld fehlt. Kollegen arbeiten gar nicht oder kurz. Von den zehnen sind's auch nur noch fünf. „Beschissen“ so steht es auf gut deutsch um den Palast. Der einst so renommierte Ball, der dreimal jährlich rauschte, fiel letztes Wochenende aus. Keine einzige Karte wurde verkauft. Ähnliche Resonanz finden die regelmäßig stattfindenden Theateraufführungen, Konzerte und Vorträge. Wie lang dieser Leerlauf noch dauert — keiner weiß es. Einzig die Gerüchteküche brodelt auf Hochtouren.

Bundesfinancier Waigel sei im Haus gewesen und plane die Übernahme. Die Mitarbeiter allerdings würden rausfliegen — „sind doch alle rot“, so die bayerische Begründung, wird gemunkelt. Bis Mitte September fällt die Entscheidung. Trübe Aussichten hin oder her — die Brigadeleiterin der Garderobenfrauen, Walli Ritdorf, macht, was sie schon seit der Geburtsstunde des Palastes 1976 macht: Einen Dienstplan. Sie weiß nicht, ob die, die sie zum Dienst einteilt, auch noch bis zum Monatsende da sind. Und außerdem ist es ihr letzter Plan. Sie blickt Elvira K. nach, die gerade ihre Papiere abgeholt hat. Ein bißchen zittert ihre Stimme, als sie den beiden Garderobenfrauen zuruft, daß sie mal wieder reinschaue.

Namen auf Wunsch geändert.