: Simulierte Luft- und Blutströme
■ Gespräch mit Prof. Peitgen, Mathematiker, über die Mathematische Gesellschaft
Nächste Woche erlebt unsere kleine Stadt eine Mathematikerschwemme. Die Mathematische Gesellschaft feiert 100. Geburtstag mit feschem Rahmenprogramm: einer Ausstellung mit Visualisierungen aus der Mathematik (ab 16.9., Untere Rathaushalle), einem Musikabend von und mit G.Ligeti (18.9., 20h, Kunsthalle), einer „Aura“, Violin-Environment (19.9., 22h, Waldau-Theater) von Janos Negyesy. Wahrscheinlich gibts auch eine Vereinigung mit den DDR-Mathematikern.
Professor Heinz-Otto Peitgen ist Mathematiker an der Bremer Uni, Chaosforscher und Mitorganisator des 100. Geburtstages.
taz: Sie beschreiben in der Festschrift das Treffen von Nichtmathematikern und Mathematikern so: „Ach, Sie sind Mathematiker? Ich hatte in Mathe immer 'ne fünf!“ Hätte ich das gefragt, was hätten Sie geantwortet?
Heinz-Otto Peitgen: Daß in unserer Entwicklung der letzten 100 Jahre etwas anders gelaufen ist als in Ländern, wo man auf Mathematik stolz ist.
Stolz fällt ja nicht vom Himmel. Was Scharen von Schülern schlaflose Nächte bereitet hat, macht kein erwachsenes mathematisches Interesse.
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Paßbild mit Mann
Richtig. Die Leiden der Schüler erzeugen Druck in der Familie, der nicht abgeleitet wird in gesellschaftlichen Druck. Auch meine zwei Töchter leiden unter der Mathematik. Ich finde es grausam, daß die Kinder nach Hause kommen und total in Angst sind, weil sie nichts vestanden haben. Das ist ganz schlimm zu spüren, daß da ein kleines Wesen so in Not ist, daß ihm schlecht schlecht wird. Ich verfluche die Mathematik in der Schule mindestens einmal die Woche.
Vielleicht liebt ja die Mathematik ihre Aura von Angst und Rätselhaftigkeit? Mal ketzerisch gefragt: Warum soll überhaupt, wie Sie es fordern, die Mathematik anerkannter werden?
Die Mathematik spielt in den Naturwissenschaften eine immer dominierendere Rolle. Auch in den Ingenieurwissenschaften gibt es eine stark zunehmende Mathematisierung.
Was mathematisiert sich denn da?
Man versucht, Phänomene nicht nur mit Worten zu beschreiben, sondern durch Gesetze. Nehmen wir mal ein Beispiel: Ein Flugzeug kommt in Gefahr, wenn sich an Tragflügeln Turbulenz bildet, etwa bei Eis. Das wurde früher dadurch verhindert, daß Ingenieure im Windkanal neue Formen ausprobierten. Aber mit den Möglichkeiten moderner Computer kann ich die Strömung an dem vereisten Tragflügel berechnen. Das heißt, jetzt habe ich ein Werkzeug, das mir durch Simulation möglich macht, den Tragflügel neu zu gestalten. Was früher Jahre dauerte, macht man jetzt im Rechner. Unter anderem auch hier in Bremen, bei MBB.
Und was haben NormalverbraucherInnen davon?
Wir machen jetzt einen Riesensprung zu den Menschen, die künstliche Herzen bauen. Entscheidend ist, daß, wenn ich Flüssigkeiten pumpe, die von langsam zu schnell strömen. Da können bei Hindernissen in den Röhren Turbulenzen entstehen. Das ist sehr gefährlich, weil dann Emboliegefahr besteht. So — und jetzt kommen wieder mathematische Modelle, die simulieren im Computer eine strömende Blutflüssigkeit, um festzustellen, kann da Turbulenz auftreten oder nicht. Das ist der Knackpunkt: zwei Probleme, aber dieselben Ideen. So hat Mathematik den höchsten Transfergehalt in allen Wissenschaften: die Fähigkeit, einer Erkenntnis überall nützlich zu sein — die Mathematik als innere Sprache der Naturwissenschaft.
Nun wirkt ja der Anlaß unseres Gesprächs, der 100. Geburtstag der Mathematischen Gesellschaft, wie ein Coming-Out der Mathematik: Es wird groß gefeiert u.a. mit einer Ausstellung über visualisierte Mathematik, mit Kompositionen von Giörgy Ligeti...
Was Ligeti betrifft: einerseits ist er ein geistiger Verwandter unserer Uni-Gruppe, die sich mit Chaostheorie und fraktaler Geometrie beschäftigt (vgl. taz vom 7.5.), der andere Grund sind seine Kompositionsabsichten, die sehr viel mit Mathematik zu tun haben. Mathematik heute beschäftigt sich intensiv mit komplexen Denkstrukturen, realen Strukturen und versucht dafür einfache handlebare Mechanismen zu finden. Sie sucht Begriffe, mit denen man die Komplexität beschreiben kann. Das passiert auch bei Ligeti: Er stellt komplexe Tonerzeugnisse mit einfachen Mitteln her, er verdichtet Tonerzeugnisse zeitlich und verschmilzt sie, wie beim Film. Jedes einzene Bild wird nur eine 25stel Sekunde gezeigt, und das Auge kann alles verschmelzen. Dasselbe findet statt im Ohr. Wenn man Tonerzeugnisse zusammenbringt, die sich zeitlich um weniger als eine zwanzigstel Sekunde unterscheiden, dann verschmelzen sie. Und diese Verdichtungsprozesse sind tatsächlich der Kern der fraktalen Geometrie, also jener Geometrie, die diese unglaublichen Bilder erzeugt, z.B. das sogenannte „Apfelmännchen“. Und das Faszinierende ist, daß jemand aus der Musik zu den gleichen Ergebnissen kommt wie die Mathematik. Fragen: claks
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