Suche nach heiler Welt

■ Die triste Realität der Nordseeküste in Schleswig-Holstein und "Die andere Landrundfahrt"

Die triste Realität der Nordseeküste in Schleswig-Holstein und „Die andere Landrundfahrt“

VONPETERSTEINHAGEN

„Nein, St. Peter-Ording muß nicht sein, und auch Westerland auf Sylt sehen wir uns nicht an“ — die beiden großen Nordseebäder in Schleswig- Holstein stehen nicht auf dem Reiseprogramm der acht Jugendgruppen. Massentourismus, Ghettourlaub — beides ist nicht ihr Fall. Vielmehr ist es eine Reise in die Kinderzeit, ein wenig die Suche nach der heilen Welt, aber zugleich sind die 18 Jugendlichen auf ihrer Rundreise durch Schleswig-Holstein Realisten genug: „Es gibt keine Chance, die Zeit zurückzudrehen“, sagt Lothar Immer, Bildungsreferent des Kreisjugendringes Hannover Land. Dennoch wolle man sich der Bewahrung der wenigen positiven Möglichkeiten verpflichten, und so geht „Die andere Landrundfahrt“ Pfade abseits des touristischen Massenrummels im Urlaubsland Schleswig-Holstein: Sie sind unterwegs mit Fahrrad und Kanu und zu Fuß und praktizieren den „sanften Tourismis“, den die Fremdenverkehrbranche zum neuen Schlagwort der Werbung neuer Urlauber im Land zwischen den Meeren erkoren hat. Nur nennen die Jugendlichen, die erstmals diese Form eines naturschonenden Urlaubsgeschehens praktizieren, „Tourismus mit Einsicht“.

Acht Gruppen aus der Bundesrepublik Deutschland starteten zu einer ökologischen Bildungsreise in den Norden der Republik. Abseits der „Urlaubsvollzugsanstalten“, wie Lothar immer die Betonsiedlungen an den Küsten und Hochhausburgen nennt, geht es um eine Mischung aus Theorie und Praxis des sanften, umweltverträglichen Tourismus, um aktives Erleben von Natur und das Erkennen der Zusammenhänge in der Umwelt.

„Von der Eiszeit zur Teerzeit“, so heißt der Reisetitel einer Gruppe, die über die Ratzeburger Seenlandschaft und Mittelholstein bis an die Nordseeküste nach Brunsbüttel reist. Im Gepäck dabei Ökotestkoffer, mit denen Wasserproben genommen und analysiert werden können. „Wind und Wetter“ heißt eine weitere Reisegruppe, die Schlei und die Niederungen bis Friedrichstadt erkundet „Auf den Spuren der Wikinger“. Neun Tagungshäuser sowie Einrichtungen für Kinder und Jugendliche in ganz Schleswig-Holstein haben sich vor zwei Jahren zusammengeschlossen und den Verein „Die andere Landrundfahrt“ gegründet. Die Gruppenreisen bieten nicht den üblichen Sommerurlaub mit Sonnenbad und Sonnenbrand an, wie Christof Müller vom Tagungshaus Buchholz erklärt: „Uns geht es nicht um Reiseverzicht, sondern in erster Linie um Mitgestaltung und Mitverantwortung.“ Der Erhalt der Reiselandschaft stehe im Mittelpunkt. Die intakte Natur als eigentliche Grundlage des Tourismus sowie die eigenständige Kultur und Lebensweise in den traditionellen Urlaubsgebieten an Nord- und Ostsee und auch in den anderen Massentourismusregionen der Erde müßten vielmehr in den Mittelpunkt des Bewußtseins der Urlauber rücken, meint Müller.

Ansätze zu derartigen Denkweisen hätten die Teilnehmer deutlich im Grenzgebiet zum anderen Deutschland bei Ratzeburg zum Ausdruck gebracht. Dort sei man von einem ortskundigen Förster zu den letzten Lebensräumen der Kormorane geführt worden. Im Schatten der Grenze hätten die Tiere in der bis zur Grenzöffnung weitgehend unberührten Naturlandschaft überleben können. „Jugendliche unserer Gruppe hat der eine Besuch bei den Tieren genügt. Sie wollten von sich aus nicht ein weiteres Mal in das Naturreservat eindringen“, kennzeichnet Lothar Immer den Bewußtseinswandel in der kleinen Reisegruppe.

Schleswig-Holstein — ein Reiseland der Vernunft? Fast möchte man dem Vorsitzenden des Nordseebäderverbandes, Volker Hoppe, Glauben schenken, der die Westküste des nördlichsten Bundeslandes für den „sanften Tourismus“ als geradezu prädestiniert einschätzt. Der Mann von Sylt, in Deutschland ganz oben, gibt sich einsichtig: „Unter dem Begriff „sanfter Tourismus“ sehe ich alle Maßnahmen, die zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen, insbesondere den pfleglichen Umgang mit Natur und Landschaft.“ Schlau gesprochen hat der Tourismusmanager da. Die Wirklichkeit sieht anders aus — auf Sylt, in St. Peter-Ording, an der Ostseeküste, rund um Ratzeburg.

Gerade Sylt erstickt in diesem Sommer wieder in Autolawinen, stundenlange Wartezeiten an den Autozügen, laufende Kfz-Motoren dröhnen und verpesten die Inselluft.

Und in dem Nordseebad St. Peter- Ording, zweitgrößtes in Schleswig- Holstein mit fast zwei Millionen Übernachtungen? Auch hier steht die schnelle Mark mit den Touristen an erster Stelle. Das Seebad leistet sich zudem einen Autostrand mitten im naturgeschützten Nationalpark Wattenmeer — einmalig in Deutschland. Ein machtloser Umweltminister Heydemann in Kiel ist bisher mit seinem Versuch gescheitert, die Autos von den Wattenmeer-Sandbänken und damit aus einem ökologisch hochsensiblen Gebiet herauszuholen. Statt dessen rollen zunehmend Wohnmobile auf die Wattensände, und so manche Chemietoilette geht über Bord: Die High-Tech-Goldeimer mit ihrem hochgiftigen Inhalt sind zu wahren Ökokillern geworden, die niemand entsorgen kann und will, denn sie bringen auch jede Biologie in kommunalen Kläranlagen um. Mit Handzetteln versucht die Kurverwaltung der Scheißeflut beizukommen, inzwischen kümmert sich auch ein Staatsanwalt um die illegale und umweltgefährdende Abfallbeseitigung am Nordseestrand. Als Gebiet des „sanften Tourismus“ hat selbst der ADAC die Landschaft um Eiderstedt, an deren Spitze das Seebad St. Peter-Ording liegt, ausgewiesen und dabei offenbar übersehen, daß sich sommertags schier endlose Blechlawinen aus Tausenden von Autos durch die flache Marschenlandschaft quälen, die Dörfer durchfluten und eine sonst intakte Landschaft verschandeln. Im Gardinger Fremdenverkehrsbüro, dem Sitz der Tourismusgurus in Eiderstedt, ergeht man sich in Schulterklopfen — sanfter Tourismus, gut vermarktet ein prima Werbegag, aber weit entfernt von der täglichen Realität; dort zeigt sich nämlich häufig genug der Tourismus als „sanfter Terrorismus“.

Dabei hat den Landschaftsfressern und Wachstumsaposteln in den Erholungsgebieten längst die Stunde geschlagen: „Paradies erschlossen — Grün kaputt“ schreckt nicht nur die Teilnehmerrunde der „anderen Landrundfahrt“ ab. Was die jungen Leute bei ihrer alternativen Tour durch Schleswig-Holstein abstößt, verschreckt auch den weniger aufmerksamen Touristen. Ausufernder Autoverkehr und die Selbstverstümmelung der Ferienorte stehen auf der Kritikliste obenan. Die Umweltdiskussion, von vielen Kurdirektoren heftig gefürchtet, leert dagegen keine Betten, wie man beim Nordseebäderverband in Husum weiß. Und gekaufte Jubelpropaganda, auf die manch ein Tourismusgewaltiger immer noch setzt, kann eher zum Nachteil geraten: Die Leute kommen, sehen die Wirklichkeit und kehren den Rücken.