Untergang eines linkischen Engels

Heute vor 35 Jahren erschien in einem Pariser „Untergrund“-Verlag die amerikanische Erstausgabe von Nabokovs „Lolita“  ■ Von Stephan Reimertz

Am 15.September 1955 liegt in den Kiosken und Trafiken von Paris, wohl auch in ein paar nicht ganz koscheren Buchhandlungen, ein neuer Titel der berüchtigten grünen Paperback-Reihe „Travellers Companion“ aus. Der Name des Autors, Vladimir Nabokov, ist höchstens einigen literarisch interessierten taxifahrenden Großfürsten der russischen Kolonie bekannt. Der Name des Romans lautet hispanisch und halbseiden: Lolita.

Das zweibändige Werk war über die Agentin Doussia Ergaz vom „Bureau Littéraire Clairouin“ an den Verleger Maurice Girodias gelangt, nachdem amerikanische Verlage den Druck nicht hatten wagen wollen. Girodias, in Frankreich lebender Amerikaner, hatte als Weggefährte der Surrealisten die freie Liebe und das Lustprinzip mit einer originellen Geschäftsidee verbunden: In seiner „Olympia Press“ brachte er englischsprachige Literatur heraus, die am prüden und pornografischen Abschnitt 211 des Strafgesetzbuchs gescheitert wäre oder gescheitert war. Der Text dieses Gesetzes, das schon die Einfuhr des Ulysses zunächst verhindert hatte, war bereits 1922 im 'Mercure de France‘ der vermutlich verblüfften Pariser Intelligenz von Ezra Pound als ein Beispiel olympiareifer Dummheit zitiert worden, würdig in Flauberts Enzyklopädie aufgenommen zu werden. Vor allem amerikanische Touristen und GIs kauften Girodias' Taschenbücher und schmuggelten sie in die USA ein, die so via Re-Import einige ihrer besten Schriftsteller kennenlernten.

Die Erstausgabe der Lolita bei der „Olympia Press“ war mit Druckfehler gespickt (wir kennen das) und betrug 5.000 Exemplare. Nabokov, nach dessen Urteil die muntere Edition vor allem wertlose Auftragswerke vertrieb, „die genau der gleichen Kategorie angehörten wie die an dunklen Straßenecken feilgebotenen Fotos der Nonne mit dem Bernhardiner oder des Matrosen mit dem Matrosen“, kündigte zwei Jahre später den Vertrag. Nach dem vehementen Skandalerfolg aber, währenddessen sich sogar das britische Unterhaus mit Lolita befaßte, erschienen bis 1961 noch fünf weitere Auflagen des Romans in der „Olympia Press“, jetzt parallel zur US-amerikanischen (1958 bei Putnam's), britischen (1959 bei Weidenfels & Nicolson) und französischen Ausgabe (1959 bei Gallimard). Ende der fünfziger Jahre war das entlaufene Schulmädchen zum Bestseller geworden, sein nun 60jähriger Erzeuger konnte alle akademischen Brotarbeiten lassen und sich als freier (und wohlhabender) Schriftsteller an den Genfer See zurückziehen. 1962 drehte Stanley Kubrick zum Roman dann einen atemberaubenden Film mit Sue Lyon, James Mason und Peter Sellers, der sein dialektisches Verhältnis zur Dichtung auch dank Mitwirkung Nabokovs als Drehbuchautor gewann. Im Juni desselben Jahres noch widmete die 'Newsweek‘ Autor und Geschöpf eine Titelseite („Lolita's Creator: Vladimir Nabokov“).

Der Erfolg dieses Romans hat den Dichter ans Licht der weiten Öffentlichkeit gehoben und das Interesse an seinen anderen Büchern eröffnet, die fast alle in russischen Emigrationsausgaben brachlagen; er hat zugleich jedoch die literarische Bedeutung des Werks verschattet. Unsere Großeltern lasen Lolita, „weil man wissen wollte, wie das ist mit so einem jungen Mädchen“ (der Roman beschreibt gerade das nicht), unsere Eltern lasen das Buch gar nicht (sondern griffen zu den ebenfalls zunächst als „Travellers Companion“ erschienenen „Tropic“-Romanen Henry Millers). Unbelastet von der „Moral“ der fünfziger Jahre und ihrem verzweifelten Voyeurismus können wir heute das Buch neu und vielleicht zum ersten Mal richtig lesen. Sein „Sex“ wird inzwischen an jeder Straßenecke überboten, seine sprachliche Intelligenz aber nur einmal im Jahr: am Bloomsday.

Die Zeit steht still — vor Schreck

Der amerikanische Highway ist die Straße des Vergessens schlechthin. Man fährt Tag und Nacht, ohne an Grenzen zu stoßen, die erinnern, wo man ist, und daß man überhaupt irgendwo ist. Humbert Humbert, so der erschreckende Name vonLolitas Ich-Erzähler, fährt sein vagrant schoolgirl durch Potemkinsche Dörfer des american way of life in die Zukunftslosigkeit hinein. VN hat in diesem Roman keine Persiflage der middle-class liefern wollen, obwohl seine Interpreten das behaupten. Im Gegensatz etwa zu Wests chaplinesker „Cool Million“ ist sein Amerika Staffage. Er zelebriert das negative US-Chliché europäischer Intellektuellenfolklore nur als Motorgeräusch des ausgedienten Wagens — wir geben Humbert einen „Oldsmobile“ oder „Elphint“ —, in dem der selbsternannte Daddy sein Tochter-Opfer hinwegträgt; über die Bundesstraßen des Kontinents und in (wie der Autor selbst sie nannte) Rolls-Royce-Prosa. Die erste Flucht von Mann und Kind ist eigentlich zeit- und ziellos. Aber auch der Ortsfremde erkennt topografische Konturen: Neu England — Südstaaten — südlicher Westen — Californien — Canada — Mitwesten — Osten. Also eine Reise im Uhrzeigersinn, zum Raum wird hier die Zeit. In der präzis mitgelieferten Chronologie der Erzählung: August 47 bis August 48. Das ist nicht „Autofahren als tpyisch amerikanische Fortbewegung“, sondern Erkundung eines Erdteils: Lolita. Reisen als Ausdruck des erotischen Ahasverismus dessen, der in Wirklichkeit festsitzt, eines in seiner Obsession Gefangenen.

Der magiströse Ich-Erzähler schreibt im Gefängnis seinen linearen Bericht von Entführung und Mißbrauch einer weit Minderjährigen gegen die Zeit, die ihn mit Verurteilung und Tod bedroht. Humbert Humbert (und mit ihm Vladimir Vladimirowitsch) verweigern sich dabei der unfreiwilligen Erinnerung; die Vorgänge sind nicht verschachtelt, sondern übereinandergelegt.

Lolita ist beiläufig ein Kriminalroman: Das Buch ist spannend. Tatsächlich aber steht die Zeit still. VN fand das furchterregende Bild der Uhr ohne Zeiger (dagegen ist Dalis Idee Kunstgewerbe). Die Chronologie des Erzählten setzt sich gegen die Gleichzeitigkeit der Erinnerung nicht durch. Die Konfessionen des Eskapismus liegen unter einer lähmenden Glocke von Unbeweglichkeit. Das entspricht Nabokovscher Relativitätslehre: Der Zeiger fehlt und weist damit umso drohender auf die anderswo sicher ausholende Zeit. So sitzt der Ich-Erzähler mit der ungeliebten Charlotte, die er heiratet, um der Tochter nah zu sein, am Hourglass- See, in dem er sie naheliegenderweise zu ertränken plant; dabei fühlt er die Landschaft rund umstellt und erwartet (zu Recht), daß der weiterlaufende Zeiger auch ihm den Kopf abschlagen wird.

Das Reisen mit Lolita während ihres suspendierten Schuljahrs ist vor allem eine Odyssee gegen die Gewißheit der Vergänglichkeit. Er sucht das Mädchen zu halten, indem er mit ihr flieht, und es ist klar, daß der Weg ein Ende haben muß und nur ein schlechtes haben kann. Der Entführer fährt auch gegen Lolitas Älterwerden an; er kann sie nur jung begehren. Erst wenn er sie fünf Jahre später als reizlose Hausfrau wiedersieht und dabei feststellt, daß er sie liebt (und da erst glaubt es ihm der Leser), ist der Bann seines Lebens gebrochen, die Protagonisten treten in ihre wirkliche Zeit ein. Als Humbert Humbert sein Mädchen und seine Zeit wiederfindet, ist sie für beide schon abgelaufen.

Kindliche Verführerin: ein gefährlicher Mythos

Für den — auch lesenden — midwest- Rundfkopf wurde der Name Lolita und sogar der Name Nabokov gleichbedeutend mit einem Mythos der kindlichen Verführerin. Dieser Mythos hat den Nachteil, daß er fast ausschließlich in der männlichen Phantasie existiert. Daran läßt Nabokov eigentlich gar keinen Zweifel. Sein Humbert Humbert ist ein armer Teufel, der freiwillig auf die physiologisch gespeicherte Erfahrung reifer, zu sich selber gekommener weiblicher Sexualität Verzicht leistet, weil ihm sportiv gebräunte Mädchenbeine wie eine Fleischzange um Hals und Hirn liegen. Das Buch Lolita ist eine Demontage des Nymphen-Mythos, wie sie deutlicher und radikaler nicht sein kann. Das Bestseller schluckende Publikum hat mit Hilfe von Handlangerdiensten der Literaturologie jedoch eine Umkehrung der entmythologisierenden Absicht betrieben; dergestalt, daß der Romantitel heute zu einer Klassifikation auf dem Babystrich geworden ist: der des Pseudo- Teenies.

Das Argumentationsmuster aus jenem Sprach- und Denkghetto, das unter den Namen „Literaturwissenschaft“ auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche arglose Anhänger gefunden hat, ist dabei etwa folgendes: Da man im 20.Jahrhundert keinen Liebesroman mehr schreiben kann („Man kann keinen Roman mehr schreiben!“ — „Man kann keinen Liebesroman mehr schreiben!“), habe Nabokov (vermutlich nach einer Krisensitzung in Harvard) in Form eines Skandalos nun zum letzten Mal doch noch eine Liebesgeschichte verfaßt. Diese habe er der „Hygiene“ der modernen Ehe entgegenhalten wollen und dazu an die mittelalterlich-höfische Liebe zur „Unerreichbaren“ angeknüpft. Lionel Trilling, exponierter Sprecher dieser Campus-Philosophie, nennt seinen Aufsatz über Lolita (in: 'Encounter‘ 11, 1958) darum „The Last Lover“.

Den von akademischen Hürden umstellten, weltfrremden und menschenfeindlichen Dünnblütlern entging, daß Lolita gar kein Liebesroman ist. Es handelt sich noch nicht einmal um einen Abgesang auf das platonische Modell („Der Gott ist beim Liebenden, nicht beim Geliebten“) oder eine Obduktion des Petrarkismus. Lolita geht nicht zugrunde an Humberts Liebe, sondern an seinem Mangel daran. Ihn interessieren ihre Gefühle und Bedürfnisse nicht im geringsten, und Nabokov denunziert dieses Verhalten (das täglich millionenfach an den Tag kommt) aufs Schärfste. Humberts Verbrechen besteht gar nicht in erster Linie darin, mit einer (bereits initiierten) Zwölfjährigen geschlafen, sondern darin, ihr in seinem Gefühl (in dem sie in Wahrheit gar nicht vorkommt) keine eigene Stimme zugestanden zu haben. Er hat ihren Untergang in Kauf genommen, und darum kehrt sie als Verblühte nicht zu ihm zurück.

Das spiegelglatte American English und die schmerzende grammatische Präzision, die nur ein genialer Sprach-Konvertit bieten konnte, klingen in der (im übrigen sehr brauchbaren und gemütlichen) literarischen deutschen Übersetzung von 1959 kaum durch. Dieter E. Zimmer, Nabokovs kontinentaler Anwalt, geht daher im Rahmen seines auf 23 Bände angelegten deutschen Nabokovs mit Lolita neue Wege. Nabokov selbst hatte das Buch 1967 ins Russische übertragen, um aller postsowjetischen Pfuscherei vorzubeugen. In dieser Fassung ist einiges aus dem oft weichgezeichneten und schwebenden amerikanischen Vorbild offenbar härter und deutlicher geschnitten. Zimmer ließ vergleichen und konnte nun die deutscheLolita über das amerikanische Original hinaus präzisieren. Das Ergebnis ist spektakulär. Der in seiner Härte und Modernität neugewonnene Roman ist angetan, den Mythos zu zerstören, als den die Kulturgeschichte des Bürgertums ihn tradiert.

Denn täuschen wir uns nicht: Es gibt eine Lolita-„Rezeption“, die sich zum Roman verhält wie der Hitlerismus zu Nietzsche. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Deborah Moggachs Roman Porky schreibt Lolita A.:

„Ich heiße tatsächlich Lolita. Mein Vater, von dem ich sexuell mißbraucht worden bin, hat mir auch diesen Namen gegeben. Mich dem Mißbrauch zu stellen, heißt für mich gleichzeitig, meinen eigenen Namen zu akzeptieren, der als Synonym für die Legende von der kindlichen Verführerin mißbraucht wird.“