Wer zertrampelte die blühenden Erdbeeren?

Agatha Christie wäre heute hundert Jahre alt geworden  ■ Von Karl Wegmann

Die Frau war ein Arbeitstier. Als sie sich am 12. Januar 1976 im Alter von 85 Jahren von der Welt der literarischen und sonstigen Verbrechen verabschiedete, hinterließ sie 73 Kriminalromane, circa 150 Kriminalstories und -novellen, 20 Theaterstücke, 6 Liebesromane (unter dem Pseudonym Mary Westmacott), einen Gedichtband, einen Band Erzählungen, einen autobiographischen Bericht über ihre archäologischen Expeditionen und natürlich ihre Memoiren. Nach Auskunft des Guinness-Buch der Rekorde ist sie die Schriftstellerin mit den weltweit meistverkauften Büchern — vor ihr kommt nur die Bibel! Ihre Romane gibt es in 103 Ländern der Welt, und nach einer Erhebung der Unesco nimmt sie auf der Liste der am häufigsten übersetzten Autoren den zweiten Platz ein (hinter Lenin). Die Rede ist von Agatha Mary Clarissa Miller, dem bücherlesenden Teil der Erdbevölkerung besser bekannt unter dem Namen Agatha Christie.

Die kleine Agatha wurde von ihrer Mutter schon in früher Jugend dazu angehalten, sich kreativ zu betätigen. Der Ehrgeiz, mit dem die Tochter zu Werke ging, schien jedoch ihre Begabung weit zu übertreffen. Sie versuchte sich als Pianistin, war aber „zu nervös“. Dann verlegte sie sich aufs Singen, mußte jedoch eingestehen: „Ich hatte keine Stimme.“ Der englische Bühnenautor Eden Phillpotts ermunterte sie zum Schreiben und wurde fortan mit ihren Gedichten überschwemmt. Als sie aber auch mit ihrer Poesie nicht landen konnte, tat sie das, was viele junge Damen aus gutem Haus während des Ersten Weltkriegs taten: Sie ließ sich zur Krankenschwester ausbilden und begann, in einem Krankenhaus im englischen Torquay zu arbeiten. Dort machte sich eine Patientin um die nach Höherem strebende Nurse verdient. Sie entwendete aus den Beständen des Hospitals größere Mengen Arsen. Agatha hatte endlich eine Story und machte daraus gleich ihren ersten Kriminalroman The mysterious affair at Styles (deutsch: Das fehlende Glied in der Kette).

Doch niemand wollte das Buch haben. Eineinhalb Jahre lang versuchte die junge Autorin, ihren Erstling zu verkaufen, aber alle Londoner Verleger schienen sich über das Können der schreibenden Krankenschwester einig zu sein. Ein völlig unbekannter Kleinverlag erwarb schließlich die Rechte an dem Roman für die lächerliche Summe von 26 Pfund. Der überraschende Erfolg des Krimis sanierte den Verlag und stärkte das Selbstbewußtsein der Debütantin. Der Held des Romans ist ein kleiner, dicker Belgier mit Eierkopf und Schnurrbart, den weder die eisig-dekadente Intelligenz eines Sherlock Holmes noch die psychologische Raffinesse anderer klassischer Detektivfiguren auszeichnet. Die Christie verpaßte ihm vielmehr einen ordentlichen Schuß Humor, taktvolle Hilfsbereitschaft und ritterliche Zurückhaltung. Mit diesen sowohl englischen wie bürgerlichen Charakterzügen trat Hercule Poirot seinen Triumphzug um die Welt an. Über seine Geburt schreibt Agatha Christie in ihren Memoiren*: „Ich ließ alle Detektive Revue passieren, die ich in Büchern kennengelernt und bewundert hatte. Ich dachte an Sherlock Holmes, den Unerreichten — es ihm gleichzutun, würde ich niemals imstande sein; ich dachte an Arsene Lupin — war er Detektiv oder Verbrecher? Wie auch immer, nicht mein Fall. Warum keinen Belgier aus meinem Detektiv machen? Wie wäre es, dachte ich, mit einem geflohenen Kriminalbeamten? Einem pensionierten Kriminalbeamten? Nur nicht zu jung! Die Folge ist, daß mein erfundener Detektiv heute schon weit über hundert Jahre alt sein muß.“

Er war zwar äußerst sympathisch, dieser Poirot, hatte aber von Deduktion keine Ahnung. Agatha Christie unterliefen in seinen Abenteuern mitunter peinliche logische Schnitzer. So zum Beispiel in Das Geheimnis von Sittaford, in dem der Mörder eine Skilaufstrecke von zehn Kilometern in einer unmöglichen Zeit bewältigt. Meisterdetektiv Poirot merkt das nicht. Der charmante Schnüffler führte sechs Jahre lang in sechs „mystery stories“ ein nicht allzu bekanntes Krimi-Dasein, bis seine Autorin einen Treffer landete: Der Mord an Roger Ackroyd. Auf der letzten Seite dieses Romans stellt sich heraus, daß der kindliche Landarzt, der die ganze Geschichte in der Ichform erzählt, selbst der gesuchte Mörder ist. Das war selbst für das detektivromangeprüfte England einfach shocking. Das Buch wurde zum Bestseller.

Allerdings gab es nun auch die erste Kritik an der Art, wie die Autorin ihre Leser an der Nase herumführt, ihnen zweihundert Seiten lang blauen Dunst vormacht und zum Schluß die Lösung aus dem Zylinder zieht. Der „Detektiv-Club“, eine Vereinigung angesehener Kriminalautoren, beschwerte sich. Der Club hatte zur Reinerhaltung der Gattung im klassischen Lande der Detektivstory gewisse Regeln aufgestellt, die vor allem darauf abzielten, billige Lösungen im Krimi zu verhindern und damit das Fair play gegenüber dem zum Intellektwettbewerb angetretenen Leser zu sichern. Nach diesen Regeln waren verborgene Türen und geheime Zugänge ebenso verpönt, wie dem Leser nur flüchtig bekanntgewordene Nebenfiguren plötzlich als Hauptübeltäter zu servieren. Agatha Christie, die sich gerade zur Großmeisterin des „red herring“ mauserte, der Kunst, nebenbei irgendwelche Einzelheiten zu erwähnen, die dem Leser als wesentliche Indizien erscheinen, nur um ihn auf dieser falschen Fährte in die Wüste zu schicken, verteidigte sich: „Ich sage die Dinge nur so, daß sie verschieden verstanden werden können. Ich schummle nicht!“ Sprach's und schrieb sich weiter von Erfolg zu Erfolg. Ihre Fans hatten nichts dagegen, an der Nase herumgeführt zu werden, im Gegenteil, sie liebten es.

Alljährlich hackte sie zwei Romane in ihre Reiseschreibmaschine. Für die Ausarbeitung eines Krimis brauchte sie, nach monatelangem Überlegen, normalerweise sechs Wochen, darunter zehn Tage mit absoluter Konzentration. Sie arbeitete am leichtesten an regnerischen Tagen in ihren eigenen vier Wänden, vormittags und nach dem Abendessen. Grausam oder brutal waren ihre Geschichten nie. Auch später, als die altjüngferliche, strickende, aber ungeheuer agile und gescheite Miss Marple auftaucht (zum ersten Mal in Mord im Pfarrhaus), läßt die Autorin ihre Leichen mit Vorliebe in herrschaftlichen Landhäusern oder in der reizvollen englischen Landschaft herumliegen. Christies Täter liquidieren ihre Opfer ohne Lärm und mit gepflegten Umgangsformen. Der 'Evening Standard' glaubte, ihr Rezept zu kennen: „Die Christie-Sorte von Mord ohne Tränen ist auf die Blutrünstigkeit von Leuten abgestimmt, die beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen würden. Ein Christie- Süchtiger ähnelt einem Kettenraucher, der nicht inhaliert.“

Christie-Krimis sind grob gestrickte Rätsel, die nach einmaligem Lesen schnell ihren Reiz verlieren. Alles konzentriert sich in den Geschichten darauf, wer der Mörder ist, und um die Spannung zu halten, wird dieser immer erst auf den letzten Seiten enttarnt. Diese Geheimnistuerei setzt sich bis in die Biographien fort. So weist zum Beispiel die britische Historikerin Janet Morgan im Vorwort ihrer — im übrigen ausgezeichneten — Agatha-Christie-Biographie** ausdrücklich darauf hin, daß „nur einmal die Lösung eines Falls verraten wird, und auch da nur, weil Agatha Christie es in ihren Memoiren selbst getan hat“. Ansätze zur Kritik und realistischen Darstellung der Gesellschaft fehlen bei Agatha Christie völlig. Ihre Krimis geben das Verbrechen stets als intellektuelles Erlebnis, nicht aber als menschliche und gesellschaftliche Tragödie wieder. Ihre amerikanischen Kollegen aus dem „Hard-boiled“-Lager hatten denn auch nur Spott für diese Art von Geschichten übrig. Sie hielten englische Kriminalromane für stupide erstarrt und literarisch heruntergewirtschaftet. „Diese durchschnittlichen, sagenhaft öden, mühsam aufgepumpten Gebilde aus eklatantem Unrealismus und mechanischer Erfindung“, nannte Raymond Chandler sie, und die Bücher seiner berühmten Kollegin Agatha Christie waren für ihn nicht mehr als ein stets gleiches „Getüftel mit Zeittabellen und kleinen angekohlten Papierfetzen und dem ewig jungen Problem, wer wohl die hübschen blühenden Erdbeeren unter dem Bibliotheksfenster zertrampelt hat oder zu welchem Zeitpunkt genau der zweite Gärtner die preisgekrönte Teerosen-Begonie eingetopft hat“.

Trotzdem, der weltweite Erfolg der Autorin ist auch an ihrem hundertsten Geburtstag ungebrochen. Die Weltauflage aller ihrer Romane beläuft sich auf zwei Milliarden Exemplare. Allein der deutsche Scherz- Verlag verkauft jedes Jahr 750.000 Christie-Krimis. Ihre jährlichen Honorareinkünfte werden, 14 Jahre nach ihrem Tod, auf drei Millionen Dollar geschätzt.

*Agatha Christie: Meine gute alte Zeit. Scherz-Verlag, 540 Seiten, 39,80 DM

**Janet Morgan: Agatha Christie. Heyne Verlag, 570 Seiten, 16,80DM