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47.Filmfestspiele in VenedigEin Schuß Wirklichkeit

■ Heute mittag wird der diesjährige Gewinner des Goldenen Löwen bekanntgegeben. Unter den Favoriten sind die Filme von Martin Scorsese, James Ivory, Jane Campion und Aki Kaurismäki. Taz-Redakteurin Christiane Peitz zieht Bilanz.

Philip Kaufman hat die nicht zensierten Tagebücher von Anais Nin und die autobiographischen Romane Henry Millers verfilmt. Er spekuliert auf die Authentizität des Skandalösen. Und er hat die beiden gekannt. Aber die erotischen Szenen bleiben konventionell: Henry and June — doch nur Ausstattungskino.

Jane Campion hat die Autobiographien der neuseeländischen Dichterin Janet Frame verfilmt. Mit phantastisch verfremdeten Farben, die Bilder sehen aus wie koloriert. Aber die Wiesen in Neuseeland sind tatsächlich so grün. Auf einem Foto im Festivalkatalog sieht man die heute 66jährige Dichterin mit ihren drei Darstellerinnen. Sie gleichen sich. Jane Campion kennt Janet Frame: An Angel at my table — eine wahre Geschichte, als Märchen erzählt.

Spike Lee sagt: „Das Publikum weiß immer mehr über Filmfiguren, die auf wirkliche Personen zurückgehen. Deshalb habe ich mich für fiktive Charaktere entschieden, so hatte ich mehr Freiheit beim Schreiben. Der berühmte Jazztrompeter Bleek Williams, die Hauptfigur in Spike Lees neuem Film, ist frei erfunden. Mo' Better blues — die wahre Geschichte über den Jazz.

Jiri Weiss hat seine Kindheit in der Tschechoslowakei verfilmt: Die Erinnerung an seinen Onkel Ernst, der sein Dienstmädchen Martha heiratet. Onkel Ernst ist Michel Piccoli, Martha ist Marianne Sägebrecht. Weiss ist in seine Schauspieler (und in seine Erinnerung) so verliebt, daß er vergißt, sie zum Spielen zu bringen. Piccoli würde sich niemals für eine Frau wie Sägebrecht interessieren. Das Image der beiden straft jede Filmszene Lügen. Martha und ich — selbst Prag sieht aus wie eine schwäbische Kleinstadt.

Kaufman, Campion, Lee, Weiss — viele Filme des diesjährigen Wettbewerbs um den Goldenen Löwen flirten mit der Realität, handeln von realen Figuren, gehen auf Autobiographien zurück oder zeigen direkt dokumentarisches Material. Raspad etwa, Michail Belikovs sowjetischer Beitrag, ist der erste Spielfilm über Tschernobyl. Die Luftaufnahmen der radioaktiv verseuchten Gebiete sind authentisch. Oder Ragazzi fuori von Marco Risi, in dem Straßenjungs aus Palermo authentische Vorfälle aus Palermo nachspielen.

Lauter wahre Geschichten: ein Symptom. Das Kino kränkelt. Zwar hat es zum Glück begriffen, daß es nicht um seiner selbst willen da ist, sondern für die Zuschauer. Es will beeindrucken, will sein Publikum in den Bann schlagen, schließlich ist das seine Existenz. Und es weiß auch: Um Eindruck zu machen, genügt es nicht, sich zu schminken und zu verkleiden, man muß auch eine glaubwürdige Figur abgeben. Aber das Kino traut sich nicht zu, die Glaubwürdigkeit aus sich selbst heraus zu produzieren. Ein Schuß Wirklichkeit kann nicht schaden, denkt es. Wahrhaftigkeit qua Injektionsspritze. Dabei ist Kino nur dann wahr, wenn es gut lügt. Dazu muß es aber die Lüge, Kino sei Leben, als Lüge anerkennen. Anders läßt sich daraus keine Kunst machen. Kino ist die Kunst des Lügens, aber die meisten Filmemacher sind nicht verschlagen genug.

Die Ausnahmen: Ivory, Scorsese, Kaurismäki. „Es ist eine Geschichte, einen Film zu machen, der in der Vergangenheit spielt. Schwieriger ist es, einen Film zu machen, der in der eigenen Jugend spielt, in einer Zeit, an die man sich gut erinnern kann. Man weiß, wie es war. Das heißt, man glaubt es zu wissen.“ Auch James Ivory hat seine Kindheit verfilmt. Aber nur indirekt. Grundlage des Drehbuchs sind die Erzählungen 'Mr. Bridge' und 'Mrs. Bridge' von Evan S. Connell. Es geht um Ivorys Erinnerung an die Eltern, um die 30er Jahre und das Leben einer gutbürgerlichen Anwaltsfamilie in einer amerikanischen Provinzstadt. Mrs. Bridge ist unglücklich. Ihr Mann hat ihr noch nie gesagt, daß er sie liebt. Sie könnte verzweifeln an seiner Steifheit, seiner Korrektheit. Aber sie lächelt nur. Sie sind ja ein altes Ehepaar. „Ich stamme nicht aus einem gutbürgerlichen Haushalt, ich war nie in der amerikanischen Provinz, und meine Eltern sind in den dreißiger Jahren erst geboren. Aber das Lächeln meiner Mutter begreife ich jetzt besser.“ Mr. Bridge ist Paul Newman, Mrs. Bridge ist Joanne Woodward, Newmans Frau. Woodward spielt Mrs. Bridge dreimal besser als ihr Mann den Gatten. Dennoch ist Paul Newman berühmter als sie. Die Authentizität von Ivorys Film liegt in seiner Besetzung: Mr. und Mrs. Bridge — ein altes Ehepaar spielt ein altes Ehepaar. Privat sind die Newmans bestimmt ganz prima.

Martin Scorsese erzählt die Geschichte des Mafiagangsters Henry Hill. Hill hat als Kronzeuge für das FBI ausgesagt, er hat seine Geschichte Nicholas Pileggi erzählt, Pileggi hat aus den Interviews ein Buch gemacht, und Scorsese hat das Buch verfilmt. Zwei Stunden Kino pur, Little Italy in Hollwoodformat. Scorsese verläßt sich auf sich selbst, nicht auf die Geschichten über die Mafia-Family, sondern auf seine eigene Familie: die Crew. Und dennoch kann gerade dieser Film, der es gar nicht nötig hat, am ehesten von sich behaupten, eine wahre Geschichte zu erzählen. Pileggi über die Interviews mit Hill: „Er mußte die Wahrheit sagen, weil er ja alle seine Aussagen vor Gericht beschwören mußte. Wenn er nur über ein kleines Detail gelogen hätte, und sei es die Farbe eines Autos, hätte die Regierung ihn sofort aus dem Kronzeugenprogramm entlassen, er wäre ins Gefängnis zurückgekommen und dort nach zehn Minuten ein toter Mann gewesen. Der Anwalt von Jim Convey (der nächsthöhere Mafioso über Henry Hill, gegen den Hill u.a. aussagte, d.Red.), kannte Hill. Wenn er ihn einer einzigen Lüge hätte überführen können, wäre alles zu Ende gewesen. Sein Leben hing buchstäblich davon ab, daß er die Wahrheit sagte.“ Good Fellas — der bisher wohl einzige Film in der Geschichte des Kinos, auf dessen Plot schon Eide geschworen wurden.

Aki Kaurismäki hat sich seine Geschichte ausgedacht. Henri Boulanger will Selbstmord begehen. Weil er sich nicht traut, heuert er einen Profikiller an, damit der ihn umbringt. Dummerweise verliebt er sich, während er auf den Killer wartet. Aber den Vertrag kann er nicht mehr rückgängig machen. Henri Boulanger ist Jean-Pierre Léaud. Solch eine Geschichte kann sich nur Kaurismäki ausdenken. Und nur Léaud kann sie spielen.

Boulanger will nicht erkannt werden, deshalb kauft er eine Sonnenbrille. Der Brillenverkäufer ist Aki Kaurismäki. Léaud setzt sich die Brille auf, einen Moment lang sind beide im Bild. Einen Moment lang sieht Léaud aus wie Kaurismäki. Wie er bei Truffaut aussah wie Truffaut und bei Godard wie Godard. Einen Moment lang ist das Kino ganz bei sich selbst. Die reine Wahrheit. Solche Momente gibt es selten auf Filmfestivals.

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