Kribbeln im Wirbelsäulenbereich

■ Mahlers Auferstehungssymphonie erbaute am Freitag unter K. Bernbacher im St.-Petri-Dom

„Natürlich die Zweite“, sagte Otto Klemperer, gerade den Nazis entkommen auf die Frage, was er denn als nächstes zu machen beabsichtige.

„Die Zweite“ rufen die Swingle-Singers in Luciano Berios „Sinfonia“, wenn nach kurzen Orchesterwirren Fagott, Klarinetten und Geigen ein monoton- geschäftiges Liedl im 3/4 Takt anstimmen; und sie begleiten das Mahlersche Scherzo „in ruhig fließender Bewegung“, auf dessen Partitur Berio seinen musikalischen Kommentar geschrieben hat mit Ausrufen der Bewunderung (fantastic performance), der Anfeuerung (say it louder again) und Ermutigung (keep on going). In die Beriosche Collage aus Mahler und den musikalischen 20.Jahrhundert werden Texte aus dem Mai 68 und James Joyce eingewebt. Alles sei ohne Hoffnung, meint einer, und doch entdeckt er, daß sie da war, für einen Augenblick, die Hoffnung auf „resurrection“.

Mahlers am Ende des 19. Jahrhunderts entstandener Monumentalschinken für Schlagzeug, Orchester, Sopran, Alt und großen Chor trifft offenbar den Nerv des vom 20. Jahrhunderts gebeutelten Menschen. Ihre Beliebtheit ist ungebrochen, trotz des abfälligen Urteils Theodor W. Adornos, des sensiblen, hellsichtigen Chefideologen der Mahlergemeinde. Ihm grauste vor dem erhabenen, aber eher schlichtgestrickten Auferstehungsjubel am Schluß des Werkes. Er erzeugt im Zuschauer jenes spannungsgeladene Kribbeln im Wirbelsäulenbereich, den sonst nur Wagner so eindruckvoll hervorruft.

Der große Schluß nun wiederum deckt andere Bedürfnisse als die ersten Sätze. Er eignet sich auch hervorragend zum Feiern des Erreichten. So war es nicht die 9. Beethoven, die jüngst am Potsdamer Platz das Ende des Kalten Krieges musikalisch bekräftigte, es war Gustavs „Zweite“.

Dies breite Angebot an Identifizierungsmöglichkeiten ist kein Zufall. Mahler komponiert nicht. „Ich tondichte die Stürme meiner Zeit“ sagt er. Herrliche Zeiten können das nicht gewesen sein. Es sind Zeiten, gegen die die Musik sich stellt. Die Signale der Zeit, mit denen verzweifelt gerungen wird, sind die banalen Töne der Macht und die des Alltäglichen. Militärmarsch, Choral und Trivialmusik geben den Stoff ab, an dem die Kathastrophen sich entzünden.

Es muß da doch noch etwas anderes geben, meinen die Swingle- Singers in Berios Sinfonia. Mahler hat es nach langem Suchen in einer Hamburger Kirche gefunden: Klopstocks Verse von der Auferstehung. Die Antwort erreicht mitnichten das Niveau der Fragestellung. Oder doch?

Klaus Bernbacher hat am Freitag abend den Bremer Dom zur Bühne für die „Zweite“ gemacht. Auf dem bislang aus akustischen Gründen gemiedenen Hochaltar baute er den Riesenapparat, bestehend aus Nordwestdeutscher Philharmonie, den Daus-Chören aus Bremen, Lippstadt und Hamm auf. Darüber schwebte ein bauchiger, vom Akustikcomputer berechneter Baldachin. Strahlendes Licht auf der Bühne durchschnitt eindrucksvoll das geheimnisvolle Halbdunkel des prachtvollen Kirchenbaus.

Nicht nur das Auge war angetan, auch das Ohr vernahm weit mehr als gewohnt. Baldachin und massenhaft erschienene Zuhörer halbierten den gefürchteten Nachhall um gut die Hälfte (am besten lauschte man auf der für's Publikum nicht zugänglichen Empore).

Das Ambiente war wunderschön. Als Ort für Mahler leider doch falsch. Zu hören war im warmen Gesamtklang ein Werk, das nur vom Schluß her erlebt wurde. Mahlers grelles, abruptes, und polyphon durchgestaltetes Tondichten verfilzte zu schwerem, gedämpftem Klangteppich. Die Dramaturgie des Werkes war gestört. Eine einsame Flöte, bang den Aufruf eines fernen Blasorchesters nervös umspielend, klingt eben im Dome trotz Akustiksegel nicht einsam, ihr piepsiges Geflöte wird zum breit ausgemalten Ornament und verliert ihre Funktion. Bernbachers Dirigat schien denn auch Gustavs aggressiven Tönen den Stachel nehmen zu wollen. Sie war auf ruhige Monumentalität angelegt. So haben wir doch eher eine „Erbauungssinfonie“ als Mahlers mit zahlreichen Fragezeichen versehene „Auferstehungssinfonie“ gehört. Gleichwohl herzlichen Dank an die Mitwirkenden. Möge es doch viele Sponsoren geben, die weitere Aufführungen unter dem sicher teuren weißen Segel möglich machen. Mario Nitsche