„Die Wunde Deutschland darf nicht heilen“

■ Hermann Glaser (SPD), bis Mai 1990 Kulturreferent in Nürnberg, über die Pläne seiner Nachfolgerin Karla Fohrbeck INTERVIEW

taz: Kann und soll Nürnberg eine „Wächterstadt“ im gesamtdeutschen und internationalen Rahmen werden?

Hermann Glaser: Wächter muß jeder Einzelne, jede Gemeinde, jede Stadt sein. Sicher hat Nürnberg die besondere Aufgabe, sehr sensibel auf alle restaurativen, reaktionären und neonazistischen Strömungen zu reagieren und rückblickend die Verfehlungen, Irrwege, Sonderwege und die Wege in die Abgründe der deutschen Geschichte immer wieder in Erinnerung zu rufen. Ich halte es jedoch nicht für möglich, daß Nürnberg hier als Wächterstadt eine zentrale, alleinige Aufgabe übernehmen und sozusagen stellvertretend zum Mahnmal der Zeitgeschichte werden sollte.

Das Reichsparteitagsgelände ist ein Ort der Täter. Kann man solch einen Ort überhaupt zu einer Gedenkstätte machen?

Da liegt der stärkste Kontrast zu der von mir früher vertretenen Linie. Ich war immer der Meinung, daß dieses Gelände vor allem die Banalität des Bösen widerspiegeln soll, das heißt, daß man es trivial, zurückhaltend nutzt, zum Beispiel die Kongreßhalle als Lagerort für die verschiedensten Materialien. Das ist genau die richtige historische Gerechtigkeit, die man dieser Gigantomanie des Nationalsozialismus antun kann.

Das muß aber auf der anderen Seite verbunden sein mit einem Netz von Stätten intensiver Information, die jedem, der in diese Gegend kommt, neben der Banalität des Bösen auch den ganzen Hintergrund erläutert. Da ist eine gute Arbeit begonnen worden, doch die Mittel dafür sind bislang zu gering. Ich persönlich halte nichts von einer religiösen Überhöhung, wie ich sie dem Konzept entnommen habe. Zitate aus dem Neuen Testament können natürlich verwischen, daß gerade das Christentum, die Kirche — es ist eine verständliche Assoziation, daß man solche Bibelsprüche mit der Kirche verbindet — einen wesentlichen Beitrag über die Jahrhunderte hinweg zum Antisemitismus geleistet hat. Außerdem ist die Rolle der Kirche im Dritten Reich so dubios, daß man hier besser die Wahrheit jenseits von aller Metaphysik darlegt, als das Problem mit Mahn- und Erinnerungssprüche, seien sie noch so auratischer Herkunft, anzugehen.

Liegt im Fohrbeckschen Konzept die Gefahr einer Aufwertung dieses Orts der Täter?

Das wage ich im Augenblick nicht zu entscheiden. Für mich stand jedenfalls immer fest, daß das Reichsparteitagsgelände kein Ort von innerer oder äußerer Sühne oder Erbauung sein sollte, sondern vor allem ein Ort radikaler Aufklärung. Deshalb halte ich dort jede spiritualistische Komponente für nicht gut. Auf dem Reichsparteitagsgelände müßte vor allen Dingen informiert werden, weil dort die Verbrechen nicht geschehen, wohl aber kaschiert worden sind. Entscheidend ist die politische, sozialpsychologische und ideologiekritische Aufklärung, aber auf keinen Fall eine noch so gut gemeinte Auratisierung, die die Menschen in eine bestimmte Stimmung, eine der Notwendigkeit von Buße sich bewußt werdende Stimmung, versetzt.

Karla Fohrbeck fordert, „eine große Wunde soll langsam heilen dürfen“. Glauben Sie, daß in der jetzigen Situation — ich denke da an die deutsche Einheit, verbunden mit Ängsten im Ausland, an zunehmende rassistische Übergriffe — die Zeit reif ist für die Heilung „der großen Wunde“?

Ich arbeite gerade an einem Buch mit dem Titel „Die Wunde Deutschland“. Für den Einzelnen gilt zwar, eine Wunde soll heilen, aber auch hier heilen die Wunden immer von inner her und nicht oberflächlich. Im Hinblick auf die Geschichte Deutschlands darf die Wunde Deutschland nicht heilen. Das ist sogar das Beste, was Deutschland angesichts des Schlimmen, was es hervorgebracht hat, einbringen kann, nämlich die ständige Offenhaltung einer Fehlentwicklung, aus der man selbst und alle Nationen und Völker lernen können. Für mich war es das Wichtige und die große Chance nach 1945, die Wunde offenzuhalten und nicht heilen zu lassen.

Heißt das auch, man sollte das „beschädigte“ deutschen Nationalbewußtsein nicht einfach durch ein „erneuertes“ ersetzen?

Ja, wir müssen endlich davon wegkommen, Identität als eine Beschwichtigungsidentität zu begreifen. Identität bedeutet auch immer das Wachhalten von Gebrochenheiten, von Unsicherheiten und von Zerstörungen. Derjenige, der eine solche gebrochene Identität hat, ist doch viel mehr gewappnet als einer, der — frisch, frei, fröhlich, frank — deutsch, in diesem Fall deutsch-einheitlich, fix und fertige Vaterlandsgefühle zeigt.

Interview: Bernd Siegler

Hermann Glaser hat gegenwärtig einen Lehrauftrag an der Technischen Universität Berlin und ist Kulturberater der Stadt Wien.