„Viele haben Angst vor der Politik“

Thüringer Wahlbündnis zwischen Grünen, Demokratie Jetzt und Neuem Forum traf sich in christlicher Sanftmut — zum Kennenlernen/ Frauen stellen Alltagsprobleme über globale Visionen  ■ Aus Erfurt Heide Platen

Im Hinterhof des protestantischen Johannes-Lang-Hauses in der Allerheiligenstraße werden die Broiler gleich dutzendweise aus der Alufolie gewickelt. Es ist Mittagspause beim Erfurter Schnupper-Treffen von Demokratie Jetzt, Grünen aus Hessen und Thüringen und Neuem Forum. Der Tag hatte mit einem Gebet begonnen. „Das sind viel zu viele Pfarrer hier“, nörgelt ein West-Grüner und meint damit die Atmosphäre, die ihm fremd ist. In Thüringen treten die zwei Gruppen und die eine Partei, im Gegensatz zur gesamtdeutschen Wahl im Dezember, gemeinsam auf einer Liste zur Landtagswahl an. Behutsam versuchen sie an diesem Samstag, sich gegenseitig erst einmal kennenzulernen, Gegensätze zu benennen, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Streit ist nicht angesagt. Sie gehen vorsichtig miteinander um, ernsthaft; es wird wenig gelacht, keine Polemik, keine Flügelkämpfe, dafür sanfte Gruppendynamik, Ringen um Worte und deren unmißverständliche Bedeutung, christliche Duldsamkeit.

Die Stimmung ist angespannt und gedrückt, als Mathias Ladstätter vom Neuen Forum zuerst einmal anspricht, was auf allen lastet: die Stasi- Akten. Wie soll Vertrauen entstehen, wenn inzwischen bekannt ist, daß allein im Thüringer Neuen Forum zeitweilig 35 Stasi-Spitzel arbeiteten, besonders in der Gruppe Verfassungsreform und Pressearbeit? Dies mache eine „furchtbare Beklemmung“ aus. Eine junge Frau sagt später: „Ich weiß nur sicher, daß ich nicht für die Stasi gearbeitet habe. Bei meinem Mann weiß ich das vielleicht.“ Und: „Ich will, daß der ganze Dreck erst einmal weg ist.“

Die Konflikte zwischen Grünen und Bürgerbewegungen zeichnen sich dann doch deutlich ab. Die Scheu vor der Organisation, vor Parteien, der Wunsch nach einer Demokratie von unten, ein eher resignatives als rationales Beharren auf der mühsam erkämpften und erst so neuen eigenen Identität trennt die beiden unterschiedlichen Organisationsformen eher als inhaltliche Differenzen. Die Grünen aus Ost und West sehen das pragmatischer. Eine Bürgerbewegung, die sich zur Wahl stelle, meinen sie, unterscheide sich doch kaum noch von einer Partei. Die Reizworte heißen „Parlamentarismus“ und, vor allem, „Macht“.

Am Nachmittag fällt es der größten der fünf Arbeitsgruppen schwer, „gesellschaftliche Perspektiven und Visionen“ zu entdecken. Da formulieren einige Ost- und West-Männer das Bedürfnis nach globalen Utopien, „wo alle Menschen gleich sind“, Visionen, die „nach vorne bringen“. Bloß das nicht noch einmal, mahnen andere. „Wo ist denn vorne“, fragt ein hessischer Kommunalpolitiker. „Das weiß ich auch nicht mehr so genau“, stellt ein Mann aus der DDR fest. Die zweite, auffallend männliche Variante der Vision ist negativ. Da wird die „Gattungsfrage“ gestellt und die ökologische „Endzeit“ beschworen. Es breitet sich Ratlosigkeit aus, bis eine Frau und ein älterer Christ die festgefahrene Diskussion retten. Die Krankenschwester stellt für sich klar: „Die Visionen sind erst einmal weit weg.“ „Kleine Schritte“ will sie gehen, die Alltagsprobleme lösen, „winzig anfangen“, denn „viele Menschen haben Angst vor der Politik“.

Der 62jährige Diskutant, der sich als „christlicher Linker“ definiert, macht aus den „Visionen“ weltliche Zielvorstellungen. Die Abrüstung habe er schon seit 1945 im Sinn. So schwer sei es doch nicht, Konsens herzustellen, zum Beispiel in der Müll- und in der Verkehrspolitik, in der gemeinsamen Überzeugung, daß die BürgerInnen mehr „Teilhabe“ an der Politik erstreiten sollten. Basis- und Bewegungspolitik und Parlamentarismus, das gehe nicht zusammen, warnen die westlichen Grünen. „Wir“, sagen die neuen thüringischen BündnispartnerInnen da gemeinsam und fast ohne Ironie, „sind noch nicht so weit wie ihr.“

Daß der Unabhängige Frauenverband (UFV) nicht in der Listenverbindung ist, kommentiert Kerstin Schön, Abgeordnete im Erfurter Stadtparlament, eher sachlich als bitter: „Wir gehen in Thüringen allein!“ Die Frauenpolitik sei eben auch hier erst einmal kein Thema zwischen all den „historischen Stunden“ und all der „Geschichte“. Sie appellierte an das Wahlbündnis, wenn schon kein Frauenministerium, dann doch wenigstens ein Staatssekretariat für Frauen in ihr Wahlprogramm aufzunehmen. Die Arbeitsgruppe Frauen kommt zu dem Fazit, die aktuellen Probleme der Frauen in der DDR seien derzeit so groß, daß ihnen für eine „Massenbewegung“ nach westlichem Muster gar keine Zeit bleibe. Deshalb müsse, entgegen dem eigentlichen Anspruch autonomer Frauen, neben Selbsterfahrungsgruppen eine „Institutionalisierung“ der Frauenpolitik her.

Die ErfurterInnen haben das „Machtvakuum“ vom März dieses Jahres bereits genutzt und ein kommunales „Amt für die Gleichstellung der Geschlechter“ und eine Stasi- Villa als Frauenzentrum erstritten. Ob sie dort bleiben können, ist allerdings fraglich: „Der West-Besitzer hat sich gemeldet.“