„Alle Waffen dem Volk“ — Vergangenheit

Nicaragua nach den Sandinisten — Teil III: Die Sandinistische Armee hat sich mit dem Machtwechsel gut arrangiert/ Besitzstandswahrung als Ziel/ „Warum sollte jemand die Regierung an sich reißen wollen, wenn es nichts zu verteilen gibt?“/ Ohne die Armee hätte Regierung kaum überlebt  ■ Aus Managua Ralf Leonhard

„Die Sandinistische Armee: Garant der bürgerlichen Demokratie“, titelte kürzlich mit einiger Entrüstung die Wochenschrift 'El Pueblo‘, das Sprachrohr der linken MAP-ML. Tatsächlich hätte die schwache Regierung Violeta Chamorro ihre ersten hundert Tage im Amt ohne die Unterstützung der Militärs nicht überlebt. Das Rückgrat der sandinistischen Revolution, militärischer Sieger über die von den USA ausgerüsteten Contras, garantiert heute die Stabilität der von Washington gesponserten Regierung. Nicht ohne einen gewissen professionellen Stolz bekräftigte Armeechef Humberto Ortega Ende Juli in einem Fernsehinterview die Loyalität der Streitkräfte. Der Klassenkampf ist etwas für die Gewerkschaften. In der Armee bemüht man sich um Institutionalität und professionelle Reife. Auch wenn damit nicht alle einverstanden sind.

„Die Armee als Institution wird niemals einen Staatsstreich gegen eine Regierung unternehmen.“ Das ist eine der zentralen Aussagen Humberto Ortegas in einem aufsehenerregenden TV-Interview, das am 27.Juli ausgestrahlt wurde. Der General war im April von Violeta Chamorro als Armeechef bestätigt worden. „Wir werden sie aber auch nie in eine mörderische, repressive Kraft verwandeln, die die Menschenrechte verletzt. Wir werden nicht auf das Volk schießen.“ Damit begegnete Humberto Ortega einer Polemik, die der Einsatz der Truppen bei den Streiks und Straßenkämpfen im Juli ausgelöst hatte. Die Soldaten hatten damals zwar auftragsgemäß die Barrikaden entfernt, provozierten aber keine Zusammenstöße mit den Streikenden, wie es wahrscheinlich in jedem anderen Land Lateinamerikas passiert wäre.

Schon zu Beginn des Wahlkampfes wurde die Rekrutierung für den Militärdienst eingestellt. Violeta Chamorro setzte bald nach ihrem Amtsantritt per Dekret die Wirksamkeit des Militärdienstgesetzes überhaupt außer Kraft. Nach und nach werden die jungen Soldaten, soweit sie nicht ohnedies schon desertiert sind, nach Hause geschickt. Wer heute noch angeworben wird, der zieht die Uniform freiwillig an und für einen angemessenen Sold.

Seit Jahresbeginn ist die Truppenstärke der Sandinistischen Armee (der Name ist in der Verfassung festgeschrieben) halbiert worden, auf 41.000 Aktive. Die Reduzierung war von Humberto Ortega selbst in dieser Form vorgeschlagen worden. Schließlich brauche man in Friedenszeiten keine große Armee mehr. Vom Frieden kann man in Nicaragua sprechen, seit Ende Juni die letzten Contras ihre Waffen abgegeben haben. Die Truppenstärke ist jedoch eher ein Nebenaspekt der jüngsten Entwicklung. Mit der Befriedung und dem Regierungswechsel hat sich auch die Verteidigungsdoktrin der Armee verändert. Früher hieß die Parole: „Alle Waffen dem Volk“. Agrargenossenschaften, lokale Milizen und Bauernführer wurden bewaffnet, um sich gegen jede Bedrohung selbst zur Wehr setzen zu können. Seit einigen Wochen sind Polizei und Armee nun damit beschäftigt, alle Kriegswaffen, die sich noch in zivilen Händen befinden, zu konfiszieren. Selbst in Managua werden Autofahrer regelmäßig angehalten und müssen ihren Kofferraum inspizieren lassen.

Nach Auskunft des Innenministeriums sind bei Straßenkontrollen und gezielten Hausbesuchen über 20.000 Sturmgewehre sichergestellt worden, außerdem jede Menge Granaten, ja sogar Maschinengewehre und Minen. Bis Jahresende hofft Humberto Ortega das Monopol des Staates über die militärische Ausrüstung wiederhergestellt zu haben: „Es geht nicht an, daß sich jeder gegen das, was er für ungerecht hält, verteidigen will. Denn das wäre die Anarchie.“

General Ortega weiß offenbar die Mehrheit, nicht allerdings die Gesamtheit des Offizierskorps hinter sich: Anfang August überraschte er die Öffentlichkeit mit der putschartigen Absetzung und Pensionierung von Luftwaffenchef Javier Pichardo. „Wiederholte Insubordination“ habe den drastischen Schritt provoziert, hieß es in den offiziellen Mitteilungen. Bis heute sind die Motive nicht gänzlich aufgeklärt. Deswegen vermuten manche, daß Humberto Ortega sich einen Rivalen vom Hals schaffen wollte. Man weiß, daß Pichardo, der während des Befreiungskrieges innerhalb der FSLN der „Tendenz des langanhaltenden Volkskrieges“ (GPP) angehörte, wiederholt die Ablösung Ortegas gefordert hat. Die Ortega-Brüder waren die Anführer der „Aufstandstendenz“ (Terceristas), die schon 1977 das Bündnis mit den Bürgerlichen suchte, um den Diktator Somoza zu isolieren. Pichardo versuchte auch die Trennung der Armee in die drei Waffengattungen — Landheer, Marine und Luftwaffe — durchzusetzen. Damit würde nach Meinung Ortegas die Einheit der Streitkräfte aufs Spiel gesetzt. Pichardo selbst bekennt sich verschiedener Disziplinverstöße für schuldig, hüllt sich aber sonst in Berufung auf ein Gentlemen's Agreement in Schweigen.

Ohne Zweifel ist das Sandinistische Volksheer auf dem Weg zu einer traditionellen Armee: professionell aber nicht unpolitisch. In jedem Fall aber staatstragend. Noch sind alle hohen Offiziere Vollmitglieder (militantes) der FSLN. In Zukunft wird die Beförderung jedoch nicht mehr von der Parteizugehörigkeit abhängen dürfen. Die „Konzertierung“ — die Einigung über Grundprinzipien von Politik und Wirtschaft — gilt auch für die Streitkräfte.

Keiner drückte dies deutlicher aus als wiederum Humberto Ortega jüngst im Fernsehinterview: „Wenn diese Regierung scheitert, dann leidet das ganze Volk, das auf die wirtschaftliche Wiederbelebung hofft. Warum sollte jemand die Regierung an sich reißen wollen, wenn es nichts zu verteilen gibt? Wir müssen den Wohlstand erst schaffen, bevor wir ihn gerecht unter dem Volk verteilen können.“

Die Serie wird in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt. Die ersten beiden Artikel erschienen am 11.September und am 13. September