KOMMENTAR
: Orwellsche Geschichtsbewältigung

■ Die Ostberliner Polizei erledigt ihre Vergangenheit mit dem Reißwolf

Je näher der Tag der Vereinigung rückt, desto nervöser arbeiten die Kollaborateure des alten DDR-Regimes an der Beseitigung dessen, was ihnen am Tag danach die Karriereplanung durcheinanderbringen könnte. Während der mittlerweile geschaßte Justizminister Wünsche seinen Richtern und Staatsanwälten vor Monaten die Möglichkeit gab, ihre persönlichen Akten selbst „in Ordnung“ zu bringen, hat man sich bei der Ostberliner Polizei nun für eine radikale Lösung des Vergangenheitsproblems entschieden. Hier soll nicht mehr nur gereinigt, sondern auf ganzer Linie entsorgt werden. Die Akten, die in den Polizeidienststellen durch den Reißwolf gejagt werden dürfen, haben nicht nur einen allgemein historischen Wert, sie sind zudem von aktueller Brisanz. Denn die verstaubten geheimen Einsatzprotokolle der Ostberliner Volkspolizei würden sich in den Händen dieses Westberliner Innensenators in eine gigantische Anklageschrift verwandeln. Wer die Vernichtung dieser Unterlagen anordnet, scheint sie zu fürchten.

Kaum anzunehmen, daß Innenminister Diestel nichts von der Weisung gewußt hat. Aber selbst wenn nicht: als oberster Dienstherr trägt er die politische Verantwortung für diesen Skandal. An dieser Stelle zum x-ten Male seinen Rücktritt zu fordern, ist müßig. Mit jedem Tag, an dem dieser Mann noch auf seinem Posten sitzt, werden mehr Chancen vertan, sich später einmal genau und auf der Grundlage authentischer Quellen mit der Geschichte der DDR auseinanderzusetzen. Schlimmer noch: Die jetzt vernichteten Aktenberge könnten irgendwann durch Mutmaßungen und Gerüchte ersetzt werden.

Ein Ende dieser Orwellschen Geschichtsbewältigung ist nicht abzusehen. Daran ändert auch die mutige Besetzung des Ostberliner Stasi-Archivs durch die November-Revolutionäre nicht viel. Sie sind schon wieder unter sich, die Bohleys und Biermanns. Das Volk ist entschlossen zu vergessen — so gründlich, bis es sich nicht mehr erinnert, wie man je den Namen der einstigen Millionenpartei SED schrieb. Claus Christian Malzahn