Demonstration gegen Ryschkow-Plan

Am Vorabend der Sitzung des Obersten Sowjets wird der Streit um Wirtschaftsreformen schärfer Ryschkow verweigert Rücktritt / Gorbatschow muß bald ein Machtwort sprechen  ■ Aus Moskau Klaus H. Donath

Heute wird der Oberste Sowjet der UdSSR erneut die Debatte aufnehmen, in welche Richtung denn nun endlich die Wirtschaftsentwicklung vorangetrieben werden soll. Seit Wochen wird die Auseinandersetzung von einem Hickhack zweier Kontrahenten beherrscht. Auf der einen Seite steht der Ministerpräsident der UdSSR, Nikolai Ryshkow, auf der anderen Stanislaw Schatalin, Wirtschaftswissenschaftler und Akademiemitglied. Die Expertengruppe unter Leitung des Topökonomen Abel Aganbegjan, die beide Standpunkte miteinander verknüpfen wollte, gestand mittlerweile ihren Mißerfolg ein. Es sei unmöglich, die gemäßigten Vorstellungen des Regierungsprogramms mit radikalen Konzepten der Föderation und anderer Republiken auf einen Nenner zu bringen. Das Land müsse sich jetzt für die eine oder die andere Lösung entscheiden. Um der Entscheidung auf die Sprünge zu helfen, meldet sich nun auch die Straße zu Wort. Eine Reihe informeller Bewegungen und neuer Parteien hatten für gestern abend zu einer Großdemonstration im Moskauer Gorki-Park unter den Slogans „Leute sind des Wartens müde“, „Einschneidende Veränderungen sofort“ und „Die Ryschkow- Regierung der allgemeinen Verarmung muß gehen“ aufgerufen. Auch die Bürgermeister Moskaus und Leningrads, Topow und Sobtschak, sowie eine Reihe Volkdepotierter der RSFSR unterstützten die Demonstration.

Im Obersten Sowjet Rußlands wurde am Freitag zudem die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums gegen die Unionsregierung diskutiert. Doch läßt sich das verfassungsrechtlich nicht so einfach bewerkstelligen. Denn die Regierung ist in erster Linie dem Präsidenten der UdSSR rechenschaftspflichtig und erst dann dem Parlament. Insofern hängt viel von Gorbatschows Machtwort ab. Und der verhielt sich lange Zeit loyal zu seinem Ministerpräsidenten. Mit der Entscheidung, eine zweite Expertengruppe einzurichten, rückte er aber allmählich von seinem Schützling ab. Die Voraussetzung einer Allianz mit der Ryshkow-Regierung kann sich in kurzer Zeit sehr schädlich für den Präsidenten auswirken, denn die Regierung genießt von kaum einer Richtung Vertrauen: Sie steht für das Versagen, die Rekordernte nicht rechtzeitig eingefahren zu haben. Der Druck von unten wächst, auch wenn er politisch noch keine klaren Konturen gefunden hat. Gorbatschows Zögern, Ryschkow fallenzulassen, läßt sich auch so erklären: Bisher war die Unionsregierung die einzige Kraft, seine Formel vom „starken Zentrum und starken Republiken“ halbwegs umzusetzen. Denn im Gegensatz zum Schatalin-Programm, daß die Unabhängigkeit der einzelnen Republiken nun zur Grundlage seiner Überlegungen macht, hält Ryshkow an der Moskauer Suprematie fest.

Außerdem stellt sich für Gorbatschow noch eine Frage: Wer sollte Nachfolger sein? Bisher haben sich noch keine alternativen Kandidaten aus Gorbatschows Umfeld profiliert. Als einziger Ausweg ergibt sich für den Präsidenten nur die Option, ein „Kabinett des öffentlichen Vertrauens“ einzurichten. Eine Regierung des nationalen Konsens, das viele politische Kräfte einschließt.

Sollte in den nächsten Tagen eine Entscheidung für das Schatalin- Programm fallen und die alte Regierung zurücktreten, bedeutet das noch lange nicht das Ende des riesigen wirtschaftlichen Schlamassels. Gutwillige Beobachter hegen Zweifel selbst an diesem Programm und seinem Vorsatz, innerhalb der nächsten drei Monate die galoppierende Inflation einzudämmen und das Haushaltsdefizit um mehr als 30 Prozent zu verringern. Für viele Sowjetbürger aber auch Experten ist der „Markt“ ein Allheilmittel, doch über die Dosierung ist sich hier kaum jemand im Klaren. Am wenigsten die gebeutelte Bevölkerung, die zur Debatte wenig beitragen kann.