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Die Illusionäre von Greifswald

Unter zunehmendem Realitätsverlust kämpfen Werkleitung und Belegschaft um den AKW-Standort/ Anhörung in der Bürgerschaft  ■ Von Gerd Rosenkranz

Greifswald (taz) — Am Sonntag beraumt EG-Kommissar Martin Bangemann die Stillegung der DDR- Atomwirtschaft für den 4. Oktober an. Am Dienstag läutet der Bonner Oberaufseher Klaus Töpfer demonstrativ das Totenglöckchen für die Atomzentrale in Greifswald. Am Donnerstag jagt ein MIG-23-Kampfbomber knapp vorbei am AKW in die Ostsee. Wie verkraftet die Region eine derartiges Trommelfeuer schlechter Nachrichten? Um es gleich vorwegzunehmen: Die Belegschaft des „Kernkraftwerks Nord“ verfährt mehrheitlich nach der Methode Vogel Strauß, die Verantwortlichen gefallen sich in der Pose der Kämpfer gegen das Unvermeidliche.

Eine ausgesprochen angespannte Ruhe lag über der rund 500köpfigen Versammlung, die sich am Freitag abend in der Fabrikhallenatmosphäre der Mensa der örtlichen Universität zusammenfand. Und mancher im Saal mochte zu Beginn keine Garantie dafür abgeben, daß die Veranstaltung in den geordneten Bahnen verlaufen würde, die man von einer außerordentlichen Sitzung der Bürgerschaft der Hansestadt Greifswald wohl verlangen darf. Auf der Tagesordnung stand die lange geplante Anhörung über die Zukunft des AKW- Standorts an der Ostsee und damit über die des mit Abstand größten Arbeitgebers der Region.

Die Botschaft, die die beiden amtierenden Direktoren Heinz Drews und Rolf Meyer den Bürgerschaftsabgeordneten unter dem Beifall der AKW-Belegschaft nahebrachten, hätte dem Bonner Reaktorminister vermutlich die Socken ausgezogen. Auf eine kurze Formel gebracht lautet ihr Programm: Mit neuen Partnern genau das umsetzen, was vor der Wende geplant war. Für 60 Millionen Mark pro Block wollen die neuen Greifswald-Chefs, die ihre Karriere dem Rausschmiß ihres Vorgänger-Duos Lehmann/Brune vor wenigen Wochen verdanken, die vier Altreaktoren rekonstruieren lassen. Bis zur endgültigen Stillegung im Jahr 1995 sollen die Millionen über den Stromverkauf wieder reinkommen. Drews ganz in der Pose des Neu-Kapitalisten: „Das läßt sich rechnen.“ Nicht rechnen lassen sich jedoch die Stillegungskosten, die der AKW-Chef auf rund drei Milliarden bezifferte. Dafür habe selbstverständlich der Staat aufzukommen. Die Genehmigung zur Fortsetzung des Probebetriebs für den seit dem schweren Störfall im November 1989 stillgelegten BlockV erwartet Drews „in den nächsten Tagen“. Eine dreiste Erwartung, die der Abgesandte des noch zuständigen „Staatlichen Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz“ (SAAS) denn auch umgehend als unrealistisch zurückwies. Vor wenigen Tagen nämlich hatte ein AKW-Mitarbeiter öffentlich aus einem internen Papier zitiert, wonach in und um BlockV das Chaos herrscht. Die vom SAAS geforderte Dokumentation der 30.000 (!) nachträglichen Projektänderungen sei nicht im mindesten erfüllt, die vollkommen demotivierte Belegschaft leiste sich weiter Schlampereien aller Art und die Überprüfung zahlreicher Systeme habe immer neue Mängel zutage gefördert, hieß es dort. Der Mitarbeiter, der dies öffentlich machte, erhielt umgehend Hausverbot.

Geht es nach Drews sollen nach dem Einbau westlicher Leittechnik natürlich auch die im Bau befindlichen Blöcke VI bis VIII ans Netz. Doch während westliche Reaktorbauer — von Siemens/KWU über Asean Brown Boveri bis hin zu Westinghouse — die Greifswalder Schrottverwalter mit Rekonstruktions- und Vollendungskonzepten geradezu bombardieren, ist „niemand, buchstäblich niemand“ (Drews) da, der dafür löhnen will.

Daß die Überbringer schlechter Nachrichten mit freundlicher Aufnahme beim Adressaten nicht rechnen dürfen, ist eine Binsenweisheit. In Greifswald teilten sich diese Rolle zwei Reaktorexperten, die für gewöhnlich auf der entgegengesetzten Seite der Barrikade stehen: Dr. Häuser von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt. Beide hatten der Atomzentrale im Frühjahr in zwei von Bundesreaktorminister Töpfer einerseits und dem Zentralen Runden Tisch andererseits in Auftrag gegebenen Gutachten haarsträubende Sicherheitsdefizite attestiert. Während Häuser, ganz Stimme seines Auftraggebers, immer wieder versuchte, die Anwesenden von falschen Hoffnungen über die Zukunftschancen ihrer Schrottmühlen zu heilen, ging Sailer den direkten Weg: Es sei unverantwortlich, wenn die Werkleitung die Belegschaft weiter über die ausweglose Situation zu täuschen versuche und „Illusionen schürt“. Man mache sich offenbar keinen Begriff von den Tücken, die das nun auch in der DDR gültige bundesdeutsche Atomrecht bereithalte. Er glaube nicht, daß es für die Greifswalder Meiler jemals Genehmigungen geben könne, die auch vor Gericht Bestand hätten.

Und die Abgeordneten? Sie hielten sich bei ihren Fragen an jene „Schlachtordnung“, die spätestens gilt, seit die Bürgerschaft im Juni mit Dreiviertelmehrheit für den Erhalt des AKW-Standortes Greifswald votierte: CDU und PDS — eine Front. Ihr Anführer: Wolfgang Brune, gefeuerter Greifswald-Direktor und künftiger Parteifreund so manches Grünen Dissidenten im Westen...

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